aufbereitet von Manfred Deiler. Erstmals erschienen in den Landsberger Geschichtsblätter 1994, Seite 99-100 unter dem Titel „In Erdbunkern und Baracken wartete das kalte Grauen. Ordensschwestern pflegten todkranke Juden in KZ-Außenlagern“.
M. Betha Blöchl war eine der Ordensfrauen der Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz die am 29. April 1945 von der amerikanischen Militärbehörde beauftragt wurden, die Erstversorgung, Pflege und Betreuung der schwerkranken jüdischen Häftlinge im befreiten KZ-Lager Kaufering I zu übernehmen. Die detaillierte Schilderung ihrer Erlebnisse und Beobachtungen sind hier im Orginalwortlaut abgedruckt:
„Am Freitag, dem 27. April 1945, bei Einbruch der Dunkelheit, wurde nach den vorausgegangenen schreckensvollen Tagen auch unsere Stadt trotz Sprengung der beiden Lechbrücken eingenommen. Am Sonntag, dem 29. April, wurde uns der Auftrag der amerikanischen Militärbehörde überbracht, die Pflege der schwerkranken Juden im Lager zu übernehmen. Bürgermeister Dr. Linn erhielt den Befehl, nur Ordensschwestern für die Pflege der Juden zu schicken. Unter Führung von Frau Noe, einer Schwester des Herrn Bürgermeisters, eines Arztes und zwei Sanitätern traten Schwester M. Reinlinde Rast1 und ich – Schwester M. Betha Blöchl2 – sofort den Weg zum Lager3 an. Infolge der gesprengten Brücken konnten wir nur nach einstündigem Umweg über die Staustufen das andere Lechufer erreichen, von wo aus wir durch die Amerikaner ins Lager transportiert wurden.
Dieses Lager, eine große, weite Fläche an einem großen Wald entlang gelegen, war durch eine hohe Bretterwand von der Außenwelt abgesperrt. In demselben befanden sich 885 Menschen, darunter ungefähr 300 Schwerkranke. Schwester M. Reinlinde und ich beteten im Stillen ohne Unterlaß auf dem Weg dorthin. Wir fühlten, daß wir vor eine ganz große Aufgabe gestellt wurden. Aber, wie konnten wir auch nur ahnen, was Schreckliches auf uns wartete. Zuerst wurden wir in die Schreibstube geführt und den Herren der Amerikanischen Militärbehörde sowie den jüdischen Ärzten, die sich als Häftlinge hier befanden, vorgestellt. Alle Herren waren sehr freundlich zu uns. Sie stellten nun verschiedene Fragen an uns u. a. auch, ob wir von den Greueln in den Lagern etwas gewußt hätten. Wir antworteten mit „Nein“. Wir bedauerten wohl sehr oft die zur Arbeitsstätte getriebenen Juden; aber von den traurigen Ereignissen in den Lagern hatte die Bevölkerung wie wir keine Ahnung. Es war ja strengstens verboten, ein solches Lager selbst im weiten Umkreis nur zu betreten. Nun baten wir einen Arzt, er möge uns zu den Kranken führen, daß wir ihnen helfen könnten. Wir wurden zur Vorsicht ermahnt wegen des herrschenden Fleckfiebers. Wir konnten uns eines inneren Bangens nicht erwehren. Aber ein Gedanke tröstete uns: Der liebe Gott, der uns hierher gerufen hat, wird uns aus allen Gefahren erretten. Als erstes betraten wir nun das eigentliche Krankenrevier, das immer zur Aufnahme der Kranken diente. Unvergeßlich bleibt uns der grauenvolle Anblick, unbeschreiblich der Jammer und das Elend, das uns hier empfing, das Heulen und Schreien der Kranken. Wir fanden hier etwa fünfzig Kranke, total verkommen und verwahrlost, starr von Schmutz und Läusen, zum Skelett abgemagert, nur in Lumpen und alte Decken gehüllt, dicht zusammengepfercht, ein Bild tiefsten Elendes. Als uns die Kranken bemerkten, erhöhte sich ihr Weinen und Heulen. Von allen Seiten hörten wir nur immer und immer wieder: „Schwester, liebe Schwester, bitte zu mir. Jeder streckte uns seine abgezehrten Arme entgegen. Viele wollten unsere Hände küssen. Jeder wollte uns sein Leid klagen. Der Arzt bedeutete uns, daß wir uns vorerst noch nicht mit jedem einzelnen befassen könnten. Er führte uns nun in die Baracken, in welchen sonst die gesunden Häftlinge hausten, von denen aber auch jetzt alle schwerkrank darnieder lagen. Großes Entsetzen befiel uns, als wir die Kranken in solch menschenunwürdigen Unterkünften antrafen.
Wer diese Unterkünfte und dieses Elend nicht selbst gesehen hat, kann sich schwerlich einen Begriff machen. Es waren lange, tief in die Erde gebaute Holzhütten; in der Mitte kaum mannshoch, mit einem schmalen Gang durch. Rechts und links befand sich eine ungefähr 60 cm hohe Bretterbrücke, die ganz unter das Dach ging und welche als Lager dienen mußte. Die Kranken konnten nur liegen oder gebückt sitzen. Seit einigen Monaten hatten sie ein wenig Stroh als Unterlage. Da die meisten von ihnen an schrecklichem Durchfall litten, für ihre Bedürfnisse aber in keiner Weise gesorgt war, die meisten von ihrem Lager sich nicht mehr erheben konnten, kann man sich vorstellen, in welchem Zustand sich die Kranken befunden haben. Viele von den hier liegenden Kranken hatten schrecklich eiternde Wunden, andere Finger und Zehen abgefroren, andere lagen schon bewußtlos da. Wir fanden Sterbende im Freien liegen. Tief beschämte uns die wiederholte Anklage, dass es Deutsche waren, die diese Verhältnisse zugelassen und geduldet haben. Nun hatten wir Gelegenheit, ein wenig gut zu machen, was andere verbrochen hatten. Beim Anblick all dieses Elendes hatten wir all die Gefahren der Ansteckung, die uns hier drohen könnten, vergessen. Wir wünschten uns viele Hände, um allen schnellstens helfen zu können. Aber was waren hier auf diesem ausgedehnten Arbeitsfeld zwei armselige Schwestern? Mit Gottes Hilfe gingen wir nun an die Arbeit. Unsere erste Hilfe bestand darin, die Kranken mit Suppe und Getränken zu versorgen, da alle unter schrecklichem Durst litten. Erst dann legten wir Notverbände an. Es war ja alles mit unendlichen Schwierigkeiten verbunden. Im ganzen Lager kein Tropfen Wasser, kein Licht – Verbandsmaterial hatten wir selbst mitgebracht. Die Amerikaner sahen nun selber ein, dass unter diesen Verhältnissen keine ordentliche Krankenpflege möglich ist. Es wurde beschlossen, die Kranken auf schnellstem Weg zu entfernen.
Nachmittags um 3 Uhr begann der erste Abtransport der Schwerstkranken. Die Amerikaner fuhren mit einigen Lastwägen vor. Zuerst mussten aber die Kranken entlaust werden. Wegen Wassermangel mußte die amerikanische Methode – bestreuen mit Puder angewandt werden. Das war eine ganz schwierige Arbeit, denn man konnte nur ganz gebückt den Kranken beikommen. Ebenso schwierig war das Verbringen der Schwerkranken auf die Autos. Wir mußten die Kranken wegen der Höhe des Autos zuerst auf einen Brückenwagen schaffen und von dort auf das Auto, welches nur mit wenig Stroh bedeckt war. Man kann sich die Qual der Todkranken vorstellen, die sie dabei erleiden mußten. Gegen Abend kam ein Gewitter. Bei strömendem Regen mußten wir im Freien arbeiten. Die in den Wägen befindlichen Kranken konnten wir nur in Decken hüllen. Nun mußte der Transport unterbrochen werden, da es dunkel wurde. Es wurde uns von der Militärbehörde die Heimfahrt angeboten. Wir teilten ihnen unseren Entschluß mit, im Lager die Nacht über zu bleiben, da wir die vielen Schwerkranken jetzt noch nicht allein lassen wollten. Nun blieben wir allein zurück. Inzwischen fing es an zu schneien. Wir gingen von Baracke zu Baracke, verbanden Wunden und schauten nach den Schwerstkranken. Nun war es ganz Nacht geworden – wir zwei Schwestern waren ganz allein. Alles hatte sich in die Baracken verkrochen. Man hörte nur das Jammern und Stöhnen der Kranken. Mit einem Kerzenstumpen wanderten wir bis tief in die Nacht hinein in Schnee und Regen herum. Niemand war zu sehen, nur zwei amerikanische Posten wärmten sich an einem kleinen Feuer. Ganz naß und ausgefroren gingen wir nun auch in eine Baracke, setzten uns auf ein Bündel Stroh zu den Kranken und warteten auf den grauenden Morgen.
Bei Tagesanbruch eilten wir wieder in die anderen Baracken. Gegen 9 Uhr konnten wir erst etwas schwarzen Kaffee für unsere Kranken bekommen, da die Bauern aus der nächsten Ortschaft erst Wasser herbeischaffen mußten. Mit großen Kübeln schleppten wir den Kaffee in die Baracken. Hernach ging es wieder erneut an das Entlausen und Transportieren der Kranken. Im Laufe des Vormittags trafen die lieben Schwestern M. Jolenta Beyer4 und M. Ursinella Fleischmann5 ein; sie mußten zu Fuß den weiten Weg zurücklegen. Wie froh waren wir, als wir die beiden sahen! Mit vereinten Kräften arbeiteten wir bis 1 Uhr Mittag. Nun wurden wir von einem amerikanischen Offizier freundlich aufgefordert, doch endlich etwas zu essen und auszuspannen. Da wir seit Sonntagabend nichts zu essen bekommen hatten, baten wir um die Heimfahrt. Sofort wurde ein Auto bereitgestellt, das uns zur Brücke der Staustufen bringen mußte. Ein Offizier mußte uns begleiten und zur Wache bringen. In einem jämmerlichen Zustand, ganz verschmutzt und verlaust kamen wir in unserem lieben Heim an. Nach einer gründlichen Reinigung machte sich ein großer Hunger geltend. Dann gingen wir zur Ruhe, um Kraft für den folgenden Tag zu schöpfen. Am nächsten Morgen ging es wieder fort an die Stätte des Elendes. Nach einem einstündigen Marsch zum anderen Lechufer und nach langer Wartezeit auf ein Lastauto kamen wir wieder im Lager an. Wir hatten zu allem Elend auch noch sehr schlechtes Wetter. Die Schwestern M. Jolenta und M. Ursinella erwarteten uns mit Sehnsucht. Sie wurden nun auch von den Amerikanern heimgefahren. Nun ging unser Samariterdienst wieder an. Wir glaubten, nach zweitägigem Transport nicht mehr soviel Kranke vorzufinden. Aber wie erstaunt waren wir, immer wieder neue Kranke im undenkbar größtem Elend zu finden. Nun arbeiteten wir wieder rastlos bis tief in die Nacht hinein, bis wir gezwungen waren, wegen schlechtem Wetter und dichter Finsternis in einer Baracke den Morgen abzuwarten. Die Nacht war sehr kalt, wir froren und zitterten. Um Mitternacht hörten wir Schüsse, wir ahnten, daß ein Unglück geschehen ist. Wir durften aber wegen der Posten die Baracken nicht verlassen. Erst am Morgen erfuhren wir, daß ein geflüchteter Soldat angeschossen und schwer verletzt wurde. Er wurde auch mit den Kranken fortgeschafft. Nun kam der letzte Tag, den wir im Lager verbringen mußten. Bis 4 Uhr wurde immer noch abtransportiert, bis endlich alle Schwerkranken weggeschafft waren. Nun blieb nur noch übrig, was sich noch auf den Füßen halten konnte.
Wir durchsuchten noch alle Baracken im ganzen Lager. Wir mußten sehr weit laufen, bis alle Hütten im weiten Umkreis durchsucht waren. Nun wurden wir mit dem letzten Transport bis zur Kaserne gebracht und von dort gingen wir heim.
In einem jämmerlichen Zustand gingen wir durch die Stadt. Ein Landsberger Arzt begegnete uns und sagte: „Ja, Schwestern, wie seht denn ihr aus!“ – Wir sagten, daß wir vom Lager kommen; er meinte: „Das sieht man euch wirklich an!“
Als wir vom Lager weggingen, forderte uns ein amerikanischer Offizier auf, zur weiteren Pflege der Juden in die Kaserne zu kommen. Er sagte u. a., die Schwestern gehören zu den amerikanischen Truppen. Er fragte, wie uns die Amerikaner gefallen, wir sagten gut. Dann sagte er: „Bei den Schwestern sind alle Menschen gut.“ Am nächsten Morgen ging es schon in die Kaserne. Wir hofften hier bessere Verhältnisse anzutreffen; aber wir erlebten eine große Enttäuschung. Infolge des ganzen Umsturzes war die Kaserne in einem sehr unordentlichen Zustand. Durch Sprengung der Brücken gab es kein Licht und kein Wasser. Da nun Landsberg zum Sammellager wurde und außer den Kranken, die hier waren, alle Juden von den umliegenden Lagern hierher kamen, war die Kaserne in einigen Tagen von 5 – 6000 Juden überflutet. Gesunde und Kranke – alles durcheinander. Die Verpflegung reichte nicht mehr aus. Es war nichts organisiert – ein furchtbares Durcheinander. Es kam vor, daß wir beim Austeilen der Speisen mitten unter einem Knäuel raufender und tobender Menschen standen.
Ein Kriegsgefangener und vier Schwestern sollten diesen Tausenden von ausgehungerten Menschen gerecht werden.
Wir waren nahe daran, den Mut zu verlieren. Nun wandten wir uns an die Militärbehörde und verlangten, die Kranken von den Gesunden abzusondern. Endlich wurde ein großes Lazarett eingerichtet. Nun bekamen wir noch einige Kriegsgefangene und Helferinnen. Nun mußten die Kranken gebadet und gereinigt werden. Die Schwierigkeiten wurden immer größer. Das Wasser, das herbeigeschafft wurde, reichte kaum zum Kochen. Es wurde die Bevölkerung eingesetzt zum Helfen. Aber niemand wollte arbeiten, alles drückte sich – und keine Aufsicht, jeder machte, was er wollte, es war ganz schlimm. Wir arbeiteten, was nur ging; endlich waren die Kranken im Lazarett untergebracht.
Ungefähr 300 konnten aufgenommen werden. Jetzt fehlte es wieder überall am Notwendigsten. Der Wassermangel war das bitterste. Ganz langsam besserten sich die Verhältnisse. Das Rote Kreuz übernahm nun die Kaserne, und wir mußten wieder wandern.
Nach einigen Tagen wurde uns das Hilfskrankenhaus Kindergarten übergeben. Hier fanden wir wieder die gleichen Schwierigkeiten und dieselbe Not. Nach einigen Tagen war das Haus mit nahezu 90 Fleckfieberkanken belegt. Arbeit gab es – fast nicht zu bewältigen. Aber hier durften wir ganz besonderen Schutz Gottes erfahren. Niemand vom ganzen Personal erkrankte am Fieber. Nachdem das Fleckfieber abgeflaut war, wurden die schweren Fälle verlegt nach Holzhausen. Unser Haus wurde nun mit schwer lungenkranken Juden belegt. Wir arbeiteten dort nahezu acht Wochen. Die göttliche Vorsehung schickte uns nun zwei Ordensschwestern vom hl. Karl Borromäus. Sie wußten nicht wohin, und es wurde beschlossen, daß sie den Kindergarten übernehmen sollten und wir wieder in die ambulante Pflege zurückgehen könnten. Wir glaubten, alles sei in Ordnung; aber wir täuschten uns. Wir rechneten nicht mit dem Widerstand der Kranken. Aber das gab eine große Aufregung unter den Kranken. Sofort wurden zwei Listen aufgestellt. Alle Kranken setzten ihre Namen darunter. Wir hatten große Mühe, die Gemüter wieder zu beruhigen. Wir blieben noch acht Tage, und der lb. Gott fügte es, daß diese Kranken an demselben Tag, wo wir gehen sollten, alle nach Gauting verlegt wurden. Da nun das Haus mit neuen deutschen Kranken belegt wurde, gab es keine Schwierigkeiten mehr.
Schwester M. Reinlinde und ich gingen wieder in unser liebes Heim, um dort wieder unseren Beruf auszuüben. Die Schwestern M. Jolenta und M. Ursinella wurden nach zwei Wochen wieder in die Kaserne gerufen und mußten unter den größten Schwierigkeiten und Opfern bis August dort verbleiben.
Dieser Bericht für die Ambulante Krankenpflegestation Landsberg umfaßte den Zeitraum vom 29. April bis 1. August 1945.“
Kurzbiogramme: Archiv der Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul, Mutterhaus München (BSMUA).
- Schwester M. Reinlinde Rast (*1909, Profess 1932, gestorben 1999)
1935 – 1970: Marienheim Landsberg, Ambulante Krankenpflege; danach tätig in der Altenpflege in Plattling; verstorben in München. ↩︎ - Schwester M. Betha Blöchl (*1908, Profess 1932, gestorben 1981)
1932 – 1962: Marienheim Landsberg, Ambulante Krankenpflege; danach u.a. tätig in der Pflege im Krankenhaus Bad Adelholzen und im Altenpflegeheim Teisendorf; verstorben in Planegg bei Krailling. ↩︎ - KZ-Außenlager Kaufering I. ↩︎
- Schwester M. Jolenta Beyer (*1902, Profess 1930, gestorben 1993)
1930 – 1970: Marienheim Landsberg, Ambulante Krankenpflege; danach tätig in der Altenpflege im Heiliggeistspital Landsberg; verstorben in München. ↩︎ - Schwester M. Ursinella Fleischmann (*1913, Profess 1937, gestorben 2003)
1937 – 1945 Krankenhaus Landsberg; danach tätig im Krankenhaus in Kempten und im Spital in Dillingen, verstorben in München. ↩︎