aufbereitet von Manfred Deiler.
Erstveröffentlichung des Aufsatzes in der Fassung von 1996 erschienen in: Landsberg im 20. Jahrhundert – Themenhefte zur Landsberger Zeitgeschichte – Heft 6: Landsberg 1945 – 1950: Der jüdische Neubeginn nach der Shoa Vom DP-Lager Landsberg ging die Zukunft aus – ISBN: 3-9803775-5-5.
Vor knapp 50 Jahren, am 17. September 1945, am Yom Kippur (Versöhnungstag), dem heiligsten Tag des jüdischen Kalenders, zitierte Dr. Samuel Gringauz, der brillante ldeologe und die Stimme der She’erith Hapletah (der Rest der Geretteten) im jüdischen DP-Lager in Landsberg am Lech den Yiskor, das Gebet für die Toten. In seiner Einleitung stellt Gringauz fest: „Zum ersten Mal werde ich den Yiskor sprechen, in einem freien Haus der Gebete, für unsere, gefallenen Verwandten, unsere Kinder und Eltern, unsere Frauen und Schwestern und, im Namen der 5000 Überlebenden, die durch diese blutige Tragödie hier in Landsberg zusammengeworfen wurden, werde ich Yiskor sprechen, sowie für die Unbekannten und Anonymen, die von uns gegangen sind… für die sechs Millionen, die in der blutigen Erde Europas ruhen – für all diejenigen werde ich Yiskor sprechen.“ Mit diesem Gebet für die Toten des Holocaust begann die fast sechsjährige Existenz des jüdischen DP-Lagers in Landsberg am Lech. Aber was hätte man sonst erwarten können? Es waren die abgemagerten, die gebrochenen, zusammengedrängten Überreste des Hitler-Krieges gegen die Juden Europas – ein Krieg den Adolf Hitler tatsächlich gewonnen hatte. Einige von ihnen waren aus den Konzentrationslagern um Landsberg und den Nebenlagern des berüchtigten Dachau befreit worden, dort wo Tausende von Juden während der einjährigen Existenz dieser Lager umkamen.
Alvin Pheterson, ein junger amerikanischer Soldat, schrieb am 30. April 1945 an seine Eltern über sein Erlebnis im nahegelegenen Lager IV (in der Gemeinde Hurlach): „Als ich das Lager erreichte stand alles in Flammen. Die Deutschen hatten versucht, alles zu vernichten, was auf ihre Aktionen hätte hindeuten können. Aber wir waren schneller vorgedrungen als sie erwartet hatten. In dem Lager waren rund 4.000 männliche Gefangene. Die Nazis hatten vor, alle zu ermorden und dann zu verbrennen, um die Spuren ihrer Existenz zu vernichten. Aber der volle Erfolg blieb aus. Auf den Wegen zwischen den Baracken lagen Hunderte von nackten oder halbnackten Körpern. Man konnte sie wirklich nicht mehr als Menschen bezeichnen: sie bestanden nur noch als Haut und Knochen, und das meine ich genau so. Ihre Knochen stachen aus der Haut heraus. Viele von ihnen waren schrecklich verbrannt, wie ein verkohltes Stück Fleisch (…) Kein Wort kann das beschreiben, was hier zu sehen war.“
Meine Eltern kamen ins DP-Lager Landsberg am Lech am 22. August 1945. Mein Vater, Shalom Peck, wurde in Theresienstadt befreit, meine Mutter, Anna Koltun Peck, in einem Nebenlager Mauthausens in Österreich. 1943 hatten sie im polnischen Ghetto Lodz geheiratet, das die Nazis Litzmannstadt nannten. Aber bereits Anfang 1944 wurden sie voneinander getrennt. Beide überlebten Auschwitz, Stutthof, Buchenwald und den Bombenangriff auf Dresden und anderes, um dann über die amerikanische Zone des besetzten Deutschlands, im DP-Lager, das von amerikanischen Wachen patrouilliert wurde, mit Balten und Polen, ihren ehemaligen Peinigern, zusammengeworfen zu werden. Sie waren frei, aber das Glücklichsein war noch weit entfernt. Die Stimmung im Landsberger Lager wurde von Baruch Hermanowisc in der ersten Nummer der ,,Landsberger Lager Cajtung“ beschrieben. Hermanowisc, der später der zweite Herausgeber der Zeitung wurde, vielleicht sogar die beste der 60 jüdischen DP-Lager-Zeitungen, schrieb: „Wir leben an dem sich windenden bayerischen Lech, schwer verbittert über unsere Tragödie, die in der Weltgeschichte nicht ihresgleichen findet. Wir müssen unseren Willen zum Leben offenbaren, eine wirkliche Gemeinschaft gründen zu dieser Zeit unserer größten Reise, von einer unvergessenen, blutigen Vergangenheit zu einer noch unbekannten Zukunft.“
Vom Beginn der Gründung des DP-Lagers Landsberg versuchten die Juden, ihren Sinn für Menschlichkeit und Judentum wieder zu erlangen, ein Aspekt der Identität, die ihnen systematisch von den Nazis genommen worden war. Aber etwas anderes musste noch unternommen werden. Trotz der Erwartung vieler, hatten die Überlebenden nicht wie vorhergehende Generationen von europäischen Juden, die sich dem Hass hingegeben hatten, ihre Tragödie hinter sich gelassen und eine neue Existenz auf europäischem Boden aufgebaut. Stattdessen hatten die Überlebenden vor, in ihr jüdisches Heimatland „Eretz Israel“ zurückzugehen um ihre Trümmer wieder aufzubauen, wie es andere Nationen nach den Folgen des Nazisrnus ebenso taten. Nach Monaten der Befreiung war für die Juden Verzweiflung die größte Gefahr. Es war, als ob sie auf einem riesigen Friedhof lebten, ohne Hoffnung, ihn verlassen zu können. Die Einreise nach Palästina war blockiert durch britische Ängste vor arabischer Feindschaft. Emigration in die Vereinigten Staaten und in andere Länder war fast unmöglich wegen des unnachgiebigen Einwanderungssystems. Einige Juden wollten zurück nach Osteuropa, in ihre ehemalige Heimat. Nach dem tragischen Pogrom am 4. Juli 1946 in der polnischen Stadt Kielce, wo mindestens 40 Juden umgebracht wurden, flohen Tausende von Juden aus Polen und später aus Rumänien in die amerikanische Zone und auch nach Landsberg.
Dennoch wurde Verzweiflung im DP-Lager Landsberg nicht zum alles bestimmenden Gefühl. Das war der Anwesenheit von Colonel lrving Heymont zu verdanken. Man brauchte nur die fettgedruckte Überschrift der „Landsberger Lager Cajtung“ zu lesen, um zu verstehen weshalb, „Auf dem Weg zur Selbstverwaltung“ heißt es dort, „haben die amerikanischen Autoritäten in Person von Colonel Heymont dem DP-Lager Landsberg Verwaltungsselbständikeit bewilligt, die dazu beitragen soll, den „Insassen“ zu einem gesünderen und produktiveren Lebensstil zu verhelfen.“
Die Zeitung nannte den 26. September 1945, „den Tag der Verkündung, ein wahrhaft historischer Tag. Es war das erste Mal, dass alle zusammen kamen, nicht nur zu trauern und Kaddish zu sagen, sondern um Colonel Heymont anzuhören.“
Die Meinung über Irving Heymont ist noch immer, knapp 50 Jahre danach, zutreffend. Dieses wird in einem Buch (1989) des berühmten israelischen Historikers Prof. Yehuda Bauer wiedergegeben. Prof. Bauer schreibt darin: „Bis zum September (1945 d.V.) waren es fast 6.000 Menschen in Landsberg. Glücklicherweise hatte die Armee einem verständnisvollen jüdischen Offizier das Kommando über das Lager erteilt, Colonel Irving Heymont, und es war ihm zu verdanken, dass das Leben anfing, dort erträglicher zu werden (…) Landsberg wurde das Vorzeige-Lager.“
In diesen frühen Monaten nach der Befreiung und durch die Anwesenheit von Irving Heymont wurde das Leben erträglicher, aber auch nicht viel mehr. Ein Grund dafür war die wachsende Enttäuschung der jüdischen DPs über die Reaktion der Welt über die Holocaust-Erfahrungen. Ganz besonders Dr. Samuel Gringauz verspürte die Enttäuschung: „… nach unseren blutigen Erfahrungen glaubten wir, dass eine neue Welt entstehen werde, die menschliche Bedürfnisse nach sozialer Gerechtigkeit und Freiheit vollbringen würde. Aber stattdessen sehen wir dieselbe alte Welt.“
Aber Enttäuschung über die Welt durfte die Entschlossenheit der jüdischen DPs in Landsberg zu einem Neubeginn nicht behindern. Mit der Unterstützung der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) und der Arbeit des amerikanischen Psychiaters Dr. Leo Srole, des American Jewish Joint Distribution Committe (AJDC), der Jewish Agency, die ORT (Organization for Rehabilitation through Training), der Jüdischen Brigade und den amerikanisch-jüdischen Armeegeistlichen und Soldaten unter vielen anderen Organisationen, wurde Landsberg das Zentrum der jüdischen Kultur. Aus nichts wuchsen weltliche Schulen, die einen sehr erfolgreichen Lehrplan anzubieten hatten, selbst ein Lagertheater und Musikgruppen wurden organisiert. Politische Parteien wurden im Lager gegründet, sie spiegelten die verschiedenen zionistischen Philosophien und Gruppen wieder, die damals in Palästina und anderswo aktiv waren. Hier sind vor allem die Namen Dr. Gringauz, Boris Blum, Dawid Treger, Dr. Nabriski, Jakob Olejski, Valsonak, Segalson und Brugin zu nennen, die aktive Teilnehmer der Lagerpolitik waren.
Auch das religiöse Leben wurde gepflegt. Landsberg hatte eine Synagoge, einen koscheren Metzger und andere Einrichtungen, die für streng gläubige Juden notwendig waren.
Die zwei ,,lsmen“, Judaismus und Zionismus, der eine eine religiöse Identität, der andere eine nationale, wurden die Grundlage der Überlebenden für Hoffnung und Vitalität. „Mir szeinen doh“ – wir sind da – war die Redensart der jüdischen DPs um ihre Entschlossenheit auszudrücken, ihr zerstörtes Leben wiederaufzubauen und den Holocaust zu überwinden, von dem viele das Gefühl hatten, dass er ein „Versuchsprojekt für die Vernichtung der Menschlichkeit“ war.
„Wir sind da“ wurde in verschiedener Weise zum Ausdruck gebracht. Bis zum Jahresende 1948
hatten die jüdischen DP-Lager, u. a. Landsberg, den Ruf, die höchste Geburtenrate des gesamten jüdischen Volkes in der Welt zu haben. Ich war einer der Erstgeborenen im Lager, geboren am 4. Mai 1946. Eine unglaubliche Menge an Courage war notwendig, um Ja zu sagen zu einer jüdischen Zukunft und neues Leben zu schaffen. Noch ausgeprägter als die Geburtenrate war der Entschluss der She’erith Hapletah, eine Philosophie des Überlebens zu entwickeln, die Juden nie wieder in die Lage einer solchen Tragödie wie der des Holocaust versetzen sollte. In den Monaten nach der Befreiung existierte in der Bewegung der She’erith Hapletah eine Vorahnung, eine nervöse Aktivität. Die Notwendigkeit für Palästina war klar, aber ebenso klar war eine andere Notwendigkeit. Ein Journalist schrieb im Oktober 1946: ,,lst She’erith Hapletah einfach ein zufälliger Ausdruck für „Überlebende eines zerstörten Volkes“ oder bedeutet es eine Revolution in der jüdischen Geschichte, einer Renaissance im jüdischen Leben?“
Die Ideologie der She’erith Hapletah wurde in einer Reihe von brillanten Aufsätzen von Samuel Gringauz in den Jahren 1947 und 1948 formuliert. Er schrieb: „Da wir selbst das Produkt eines barbarischen Verhältnisses der Umwelt zu den Juden sind, ist es unsere Aufgabe, ein menschlicheres Verhältnis zur Umwelt zu schaffen.“ Es war die She’erith Hapletah die „aufgerufen wurde, eine positive Grundlage zu schaffen, auf der wir uns mit ihr vereinigen können. Unsere Tragödie muss der Anfangspunkt eines neuen Humanismus werden.“
Dieses Ideal war für Gringauz nicht weniger als die moralische und soziale Perfektion von Menschlichkeit. Auf diese Weise wurde die Ideologie der She’erith Hapletah zum Ausdruck gebracht und die Bedingungen für ihre Durchführung geschaffen. Gringauz und andere redeten bei Treffen der jüdischen Organisationen in Europa und in den Vereinigten Staaten, in der Erwartung, dass sie die Vermittler des revolutionären Wechsels innerhalb des jüdischen Volkes und der Welt sein würden. Aber die Auseinandersetzung mit der Welt war keine positive. Schon sehr früh, im Juni 1945, äußerte sich ein Überlebender, „dass einfach keiner begreifen kann, was wir erlebt haben während dieser Zeit. Und es scheint uns“, spekuliert er, „dass wir auch in Zukunft nicht verstanden werden.“
Und tatsächlich, als die Tore Palästinas sich öffneten, wie die Tore anderer Nationen und die jüdischen DPs Deutschland und damit Landsberg verließen (meine Eltern und ich verließen im Dezember 1949 das Lager, das dann offiziell am 15. Oktober 1950 geschlossen wurde), erkannten viele von ihnen, dass der Ruf der She’erith Hapletah nach einer Verbesserung innerhalb der menschlichen Situation nicht erhört wurde. In der Tat, die Zeit von 1945 bis 1950 (als die meisten Juden Deutschland schon in Richtung Israel oder Vereinigte Staaten verlassen hatten) war in vieler Hinsicht der Anfang eines „verabredeten Stillschweigens“ zwischen den Holocaust-Überlebenden und der Gesellschaft an sich, ein Schweigen, das das Leben der meisten Überlebenden in der Zeit nach der Befreiung kennzeichnete.
Während der vergangenen fünf Jahrzehnte wurden die Stimmen der She’erith Hapletah im großen und ganzen ignoriert! Sie sind verloren gegangen, vom Winde verweht in einer all zu unmoralischen und unvollkommenen Welt. Es war eine Stimme, die versuchte, den Überlebenden die Bedeutung des Überlebens zu vermitteln, über das Gefühl hinwegzukommen, ein „lebender Leichnam“ zu sein, in einer sich nicht sorgenden Welt. Es war eine prophetische Stimme die versuchte, die Richtung des jüdischen und menschlichen Schicksals zu ändern; eine Richtung anzusteuern, für eine moralische und gesellschaftliche Vollkommenheit der Menschheit.
In Landsberg wurde die Stimme der She’erith Hapletah „geboren“. Es sollte nicht zugelassen werden, dass diese Stimme in Landsberg stirbt. Obwohl die Geschichte Landsbergs eine schreckliche ist: von der Entstehung von ,,Mein Kampf“ in der Festung Landsbergs zu der Rolle Landsbergs als die „Stadt der deutschen Jugend“ während der NS-Zeit, wo Landsberg neben München, der Geburtsstätte des Nationalsozialismus und Nürnberg, dem Schaufenster der Bewegung, zur drittwichtigsten Stadt der Nazis wurde; bis zu den elf Nebenlagern Dachaus im Bereich Landsberg/Kaufering, worin Tausende jüdische Sklavenarbeiter umgebracht wurden, bis zu dem Gefängnis, in dem Adolf Hitler seine Festungshaft verbracht hatte und wohin Tausende von jungen Deutschen gepilgert waren, um des Führers Zelle zu bestaunen, das 1945 zum „Kriegsverbrechergefängnis No I“ wurde, bis zum jetzigen Fall von ,„Die Stadt, das Denkmal und der Maibaum“, kann Landsberg ein Ort des Neubeginns für Deutsche und Juden sein. Ich bin hoffnungsvoll, weil in Landsberg ein Willen zur Wahrheit existiert, der nirgendwo in Deutschland zu finden ist. Und ich muss mich fragen, welcher Ort wäre besser dazu geeignet, das Stillschweigen einer Generation in Deutschland und in der Welt zu Grabe zu tragen, als der Ort, an dem man sagen könnte, dass hier der Holocaust geboren wurde?
Ich glaube, dass unsere beiden zweiten Generationen, die Kinder der Überlebenden und ihre deutschen Zeitgenossen sich im Dialog vertiefen müssen, in der Auseinandersetzung mit unseren Verlusten und mit unserer Geschichte, weil wir für immer die Belastung und das Vermächtnis des Holocaust teilen werden. Vielleicht können wir beide uns noch einmal die Stimme der She’erith Hapletah und ihrer Prophezeiung über die moralische und gesellschaftliche Vollendung der Menschheit anhören. Solch ein verlorenes Vermächtnis wiederentdeckt in der Asche einer schweigenden und sich nicht sorgenden Welt würde für Juden und Deutsche ein Vermächtnis sein, das sich zu finden lohnen würde.
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