von Manfred Deiler.
Erstveröffentlichung in: Landsberg im 20. Jahrhundert – Themenhefte zur Landsberger Zeitgeschichte – Heft 2: Todesmarsch und Befreiung – Landsberg im April 1945: Das Ende des Holocaust in Bayern – ISBN: 3-9803775-1-2.
Kurz vor Ende des Krieges. Die Konzentrationslager von Dachau, Mühldorf, Landsberg und Kaufering sollen von der deutschen Luftwaffe bombardiert und liquidiert werden. Doch Gaustabsamtsleiter Bertus Gerdes kann Kaltenbrunners tödlichen Plan „Wolke A1“ mit der Begründung von Treibstoff- und Bombenmangel hinauszögern. Schließlich sollen alle jüdischen KZ-Häftlinge vergiftet werden. Gerdes gelingt durch Hinhalte- und Verzögerungstaktik, dass diese „Aktion Wolkenbrand“ nicht mehr durchgeführt werden kann und rettet so Tausenden von jüdischen KZ-Häftlingen das Leben.
Dienstag, 17. April 1945. Wie überall in Deutschland sind auch in Landsberg Durchhalteparolen zu hören. Es herrscht Endzeitstimmung. Alle wissen inzwischen, dass der Krieg verloren ist, niemand weiß was werden soll. Ortsgruppenleiter Wilhelm Nieberle führt immer noch große Reden und bereitet die Bevölkerung auf „die Stunde der Bewährung“ vor. Angst macht sich breit. Angst vor der Zukunft und Angst vor Konsequenzen: alle haben sie gesehen – die „zerlumpten, und ausgehungerten Gestalten“.
Die „Landsberger Zeitung“ gibt den Tagesbefehl des „Führers“ bekannt: „Zum letzten mal ist der jüdisch-bolschewistische Todfeind mit seinen Massen angetreten. Er versucht Deutschland zu zertrümmern und unser Volk auszurotten. (…) Wer in diesem Augenblick seine Pflicht nicht erfüllt, handelt als Verräter an unserem Volk. (…) Achtet vor allem auf die verräterischen wenigen Offiziere und Soldaten, die um ihr erbärmliches Leben zu sichern im russischen Solde, vielleicht sogar in deutscher Uniform gegen uns kämpfen werden. Wer auch Befehl zum Rückzug gibt, ohne daß ihr ihn genau kennt, ist sofort festzunehmen und nötigenfalls augenblicklich umzulegen, ganz gleich welchen Rang er besitzt. (…) Berlin bleibt deutsch, Wien wird wieder deutsch und Europa wird niemals russisch!“
Die Gauleitung in München verfolgt mit Sorge die eingehenden Berichte und Meldungen. Die Realität steht in krassem Gegensatz zu der Parole, die noch bei der Kreisleitertagung am 8. April ausgegeben wurde. Danach habe „der Führer einen bewährten Truppenführer des Ostens mit dem Gegenstoß beauftragt und ihm 14 kampfstarke Divisionen, mit bester Ausrüstung versehen, zur Verfügung gestellt.“
Der Gaustabsamtleiter von Oberbayern – Bertus Gerdes – hat den Auftrag, die Stadt München zu einer Festung auszubauen. Unter dem Codenamen „Himmelfahrt“ soll er nach dem Einmarsch der US Truppen in Schutthaufen und Ruinen in großen Mengen eingebaute Sprengmittel durch den Volkssturm zur Explosion bringen lassen. Währenddessen rollen „Personenwagen, vollgestopft mit Benzin und Mangelwaren, der flüchtenden Persönlichkeiten von Partei und Staat“ durch die Stadt in Richtung Alpen.
Zu dieser Zeit erhält Gaustabsamtsleiter Gerdes den Befehl, sich für eine wichtige Nachrichtenbesprechung in München freizuhalten. Noch am gleichen Abend eröffnet ihm sein Vorgesetzter, Gauleiter Paul Giesler, dass er von SS-Obergruppenführer Ernst Kaltenbrunner die Weisung erhalten habe, „im Auftrage des Führers unverzüglich einen Plan über die Liquidierung der Konzentrationslager von Dachau, Landsberg und Mühldorf auszuarbeiten“. Kaltenbrunner hatte Befehl erteilt, die jüdischen KZ-Kommandos von Kaufering/Landsberg und Mühldorf durch die deutsche Luftwaffe vernichten zu lassen. Dieser Plan erhielt den Tarnnamen „Wolke A1″.
Gerdes wird von seinem Vorgesetzten mit der Vorbereitung und Durchführung dieses Planes betraut. Schon am nächsten Tag trifft er sich mit dem Luftwaffengeneral Galland zu „einem Mittagessen im kleinsten Kreis“ im Seehaus am Kleinhesseloher See im Englischen Garten in München. Dort werden jedoch, so Gerdes, nur „allgemeine Fragen erörtert“. Ein geplantes zweites Gespräch über die Durchführung von „Wolke A1″ kommt nicht mehr zustande.
Gerdes versucht mit dem Führerhauptquartier in Berlin Kontakt aufzunehmen. Reichsleiter Martin Bormann ist telefonisch nicht zu erreichen, es kommt kein Anschluss zustande. Endlich erhält er eine Verbindung mit Walkenhorst, dem Personalchef von Bormann. Walkenhorst teilt Gerdes knapp mit, „daß ihm von einem Führerauftrag „Wolke A1″ nichts bekannt sei“. Er wolle sich jedoch um eine Klärung bemühen „und wieder anrufen“. Da dieser Anruf ausbleibt bemüht sich Gerdes weiter und erhält endlich eine Telefonverbindung zu Treitsch, dem Verbindungsmann zwischen Heinrich Himmler, dem Reichsführer SS, und Bormann. Dieser erteilt ihm unter dem Hinweis, dass Kaltenbrunner schließlich der Vertreter Himmlers sei, den Befehl, dass „den Anordnungen Kaltenbrunners unbedingt Folge zu leisten wäre.“
Bertus Gerdes will und kann die Verantwortung für die Durchführung eines Befehls von solch ungeheurer Tragweite nicht alleine tragen. Er begibt sich in die Ludwigstraße 28 in München und sucht seinen Vorgesetzten auf. Gauleiter Giesler läßt ihn schließlich wissen, dass er die Durchführung des Planes „Wolke A1“ „alleine mit seinem eigenen Gewissen zu vereinbaren habe“.
„Ich war mir darüber im Klaren, diesen Auftrag niemals zur Durchführung zu bringen. Da die Aktion „Wolke A 1″ schon längst zur Auslösung gekommen sein sollte, wurde ich förmlich überlaufen von den Kurieren Kaltenbrunners und ich sollte auch die Einzelheiten der Mühldorfer und Landsberger Aktionen mit den beiden Kreisleitern besprochen haben. Die Kuriere, in den meisten Fällen SS-Offiziere, gewöhnlich SS-Untersturmführer, gaben mir kurze und harte Befehle zum Lesen und Abzeichnen. Die Befehle drohten mir bei Nichtbefolgung die fürchterlichsten Strafen an, einschließlich der Hinrichtung im Falle der Nichtbefolgung. Ich konnte die Nichtausführung jedoch immer mit schlechtem Flugwetter, Benzin- und Bombenmangel begründen. Kaltenbrunner befahl daher die Landsberg-Juden im Fußmarsch nach Dachau zu führen.“
Kaltenbrunner erteilt den Befehl, die jüdischen KZ-Häftlinge von Landsberg nach ihrer Ankunft im Konzentrationslager Dachau zu vergiften. Es ist weiter geplant, alle Dachauer Häftlinge mit „Ausnahme der arischen Häftlinge der Westmächte mit Gift zu liquidieren“. Dieser neue Plan Kaltenbrunners erhält den Decknamen „Aktion Wolkenbrand“.
Gauleiter Giesler trifft sich inzwischen mit dem Gaugesundheitsführer Dr. Harrfeld zu einem vertraulichen Gespräch. Im Beisein von Bertus Gerdes verspricht Dr. Harrfeld „die erforderliche Menge von Giftstoffen zu beschaffen“, um den Befehl Kaltenbrunners ausführen zu können.
Kaum haben die ersten jüdischen KZ-Häftlinge der KZ-Kommandos von Landsberg und Kaufering Dachau erreicht, wird durch einen „Kurier von Kaltenbrunner die Auslösung des Kennworts Wolkenbrand gegeben“. Das Schicksal der Häftlinge scheint besiegelt. Doch Gerdes geht zu seinem Vorgesetzten Giesler und erklärt ihm, dass „die Front schon zu nahe sei,“ um die Vergiftungsaktion noch durchführen zu können und bittet ihn um eine Mitteilung an Kaltenbrunner. Die „Aktion Wolkenbrand“ wird nicht ausgeführt, das Leben von tausenden jüdischen KZ-Häftlingen ist gerettet.
Inzwischen überstürzen sich die Ereignisse in der Gauleitung. Aus allen Teilen des Reiches sprechen SS-Führer vor, die „händeringend für sich selbst und ihre Familien oder ihren Anhang um einen sicheren Unterschlupf“ bitten. Ein Sturmbannführer der SS-Wachmannschaften Dachau fleht den Gauleiter „geradezu auf Knien an, für die Familien der Wachmannschaften eine Unterkunft zu erhalten.“ Er befürchtet nach der Befreiung des KZ-Dachau durch die US-Truppen „schärfste Repressalien durch die Insassen des Konzentrationslagers, den dort ansässigen SS-Familien gegenüber.“ Gauleiter Giesler schickt die Bittsteller nach Berchtesgaden in das Hotel „Gemsbock“ wo die SS-Angehörigen als „unbekannte Flüchtlinge“ untertauchen sollen.
Auch für Bertus Gerdes spitzt sich die Lage zu:
„Gauleiter Giesler teilte mir vertraulich mit, daß die Dienststelle Kaltenbrunners förmlich tobte, als ich bei der Auslösung des Kennworts „Wolkenbrand“ nicht funktionierte und daß ich mich schwer in Acht nehmen müsse, da die Gestapo hinter mir her wäre“. Gerdes fürchtet um sein Leben und bangt um seine Familie, die sich inzwischen unter falschem Namen bei einem Weilheimer Bauern versteckt.
Als auf Veranlassung General Hübners – dem Leiter des „fliegenden Standgerichts“- Giesler seinem Gaustabsamtsleiter den Auftrag erteilt, die Führer der Freiheitsbewegung in Wasserburg „durch öffentliches Erhängen am Rathausplatz zu liqidieren“ nutzt Gerdes die Gelegenheit zur Flucht. Er verlässt die Stadt und kehrt nicht mehr nach München zurück.
Kaltenbrunner gibt neue Anweisungen. Der Kommandant des Konzentrationslagers Dachau erhält den Befehl „alle Häftlinge der westlichen europäischen Nationen per Lastwagen in die Schweiz zu transportieren“. Die übrigen KZ-Häftlinge sollen zu Fuß ins Oeztalgebiet verschleppt werden, „wo die endgültige Liquidierung so oder so stattfinden sollte“. Der Leidensweg der Landsberger und Kauferinger KZ-Häftlinge ist immer noch nicht zu Ende. Gnadenlos werden sie von ihren Bewachern nach Süden weitergetrieben. Wer zu schwach und zu krank ist und nicht weitergehen kann, wird erschossen oder zu Tode geprügelt und am Straßenrand liegengelassen. Lange Elendszüge von zerlumpten und ausgemergelten Menschen ziehen in den letzten Kriegstagen durch oberbayerische Städte und Dörfer. Das Morden nimmt kein Ende. Die amerikanischen Truppen ahnen, was den Häftlingen bevorsteht und beeilen sich schneller vorzudringen, um die schier endlos dahinziehenden Marschkolonnen der KZ-Häftlinge einzuholen. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Am 2. Mai 1945 werden die letzten Häftlinge am Tegernsee von US-Streitkräften befreit.
Bertus Gerdes entkommt den Nachstellungen der Gestapo und der SS. In der Gegend von Königsdorf „entläßt er seinen Fahrer“ samt Wagen, legt Zivilkleidung an, besorgt sich in der „Gauschule Seeburg“ ein Damenfahrrad, versteckt sich im Landkreis Dingolfing unter dem falschen Namen „Johann Seidel“ und wechselt vom Gaustabsamtsleiter in die Rolle eines Gutsverwalters, der aus Mecklenburg-Vorpommern vertrieben worden ist.
Am 20. November 1945 wird Bertus Gerdes vom C.I.C. in Nürnberg vernommen. Durch seine Aussagen belastet er Kaltenbrunner schwer. Ernst Kaltenbrunner, der seit 1943 Chef des Sicherheitsdienst des Reichsführers SS war, wird 1946 vom internationalen Militärgericht in Nürnberg zum Tode verurteilt.
Erst Jahre später, im März des Jahres 1989, erfuhren Überlebende der KZ-Lager von Kaufering/Landsberg, was sich damals tatsächlich ereignete. Im Dokument PS-3462 der Nürnberger Prozessakten entdeckten sie den Namen des Mannes, „dem sie ihr Leben zu verdanken hatten“. Sie suchten nach ihm, um ihm zu danken und ihn für seine selbstlose Tat zu ehren.
Gemeinsam versuchte man – nach über 44 Jahren – Bertus Gerdes zu finden. Doch vergeblich.
Alle Bemühungen ihn aufzuspüren, blieben erfolglos. Niemand wusste etwas über den Verbleib des Mannes der Tausenden KZ-Häftlingen das Leben gerettet hat.
1993 erschien die erste Fassung dieses Artikels in den „Themenheften Landsberger Zeitgeschichte“ und endete damals mit den Sätzen: „Bertus Gerdes wäre jetzt 81 Jahre alt. Vielleicht ist er noch am Leben?“
Reaktionen blieben jedoch aus – Bertus Gerdes galt weiterhin als unauffindbar.
Im März 2005 erschien die zweite Fassung dieses Aufsatzes im Internet. Drei Wochen später erhielten wir eine elektrisierende Nachricht von seinen Kindern. Sie waren zufällig bei einer Internetrecherche auf den Artikel gestoßen und erfuhren erst jetzt, dass Ihr Vater tausenden KZ-Häflingen „das Leben gerettet hatte“. Ihr Vater hatte mit ihnen über seine Erlebnisse in den letzten Kriegstagen nie gesprochen.
Bertus Gerdes lebte in den letzten Kriegsjahren – als die Bombardements in München zunahmen – mit seiner Familie in einer großen Villa in Gauting, die Hans Ritter von Lex gehörte. Er selbst war selten zu Hause und verbrachte die meiste Zeit an seinem Arbeitsplatz in München.
In den Wirren der letzten Tage vor Kriegsende gab es keinen Kontakt zur Familie. Dass er bei Kriegsende unter dem falschen Namen „Johann Seidel“ als Gutsverwalter bei Dingolfing untergetaucht war, wussten weder seine Frau Renate noch seine vier Kinder. US-Offiziere, die den Aufenthaltsort ihres Mannes herausfinden wollten, kamen fast täglich zum Verhör, um den inzwischen behördlich gesuchten Gaustabsamtsleiter ausfindig zu machen. Die Kinder hungerten und wurden, wenn sie bei den umliegenden Bauern zu „Hamstern“ versuchten, oft als Nazi-Kinder vom Hof verjagt.
Allein gelassen, entschied die Mutter schließlich, sich mit den Kindern nach Norddeutschland zu ihren Eltern durchzuschlagen. Als sie im Dezember 1945 erfuhr, dass ein Gefangenentransport nach Hamburg zusammengestellt wird, an dem sich auch Flüchtlinge anschließen können, nutzte sie die Gelegenheit und verließ mit den Kindern Bayern.
Währenddessen wurde Bertus Gerdes verhaftet, im Dezember 1945 vom C.I.C. in Nürnberg vernommen und im Lager Neuengamme bis 20. Juni 1948 interniert.
1962 ließ sich das Ehepaar Gerdes scheiden – die Familie wurde getrennt.
Bertus Gerdes verstarb im Jahr 1965.
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