aufbereitet von Manfred Deiler.
Erstveröffentlichung in: Landsberg im 20. Jahrhundert – Themenhefte zur Landsberger Zeitgeschichte – Heft 6: Landsberg 1945 – 1950: Der jüdische Neubeginn nach der Shoa Vom DP-Lager Landsberg ging die Zukunft aus – ISBN: 3-9803775-5-5.
Erika G. Grube, Jahrgang 1924, studierte 1943 – 1947 an der Akademie München bei Professor Adolf Schinnerer und der Akademie für das Graphische Gewerbe Lithographie. Ab 1945 übt sie als zweiten Beruf Bewegungstherapeutin in Klinik und eigener Praxis aus. Als Bewegungstherapeutin arbeitet sie auch im DP-Hospital St. Ottilien. Ihre Eindrücke dort hielt sie in bewegenden Zeichnungen fest. Ab 1963 widmete sich Erika Grube ausschließlich ihrer künstlerischen Arbeit.
Das Benediktinerkloster St. Ottilien wurde 1942 von den Nazis beschlagnahmt und zum Lazarett gemacht. Als im April 1945 die amerikanischen Truppen einmarschierten, veranlassten die Amerikaner die Verlegung der deutschen Soldaten und machten den ganzen Gebäudekomplex zum DP-Hospital. Dramatische Ereignisse waren dem Einmarsch der Amerikaner vorausgegangen. Bei Kaufering hatte es einen amerikanischen Luftangriff auf einen Zug mit versiegelten Viehwaggons gegeben, denn man hatte irrtümlich Munition darin vermutet. Es befanden sich aber Überlebende – hauptsächlich Juden – aus den verschieden Konzentrations-lagern darin, die von der SS vor der Front hergeschoben und dann verlassen wurden.
Drei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner erschien der Sprecher der Überlebenden beim Chefarzt von St. Ottilien und bat um Aufnahme von fünfzig schwerverletzten Zuginsassen. Der Chefarzt verweigerte die Aufnahme mit der Bemerkung: „Für Juden ist kein Platz in einem deutschen Lazarett“.
Ich selbst hatte bei Kriegsende im dortigen Lazarett als Bewegungstherapeutin gearbeitet und erlebte diese Zeit intensiv mit. Einige Tage vor der Befreiung wurden nachts drei erschöpfte Häftlinge von einem SS-Mann durch das Klostergelände getrieben. Einer brach zusammen und wurde sofort erschossen. Als dann im Laufe des April und Mai 1945 immer mehr Überlebende in St. Ottilien eintrafen, war der Eindruck so erschütternd, dass ich mich entschloss, im DP-Hospital zu arbeiten – am Anfang war jede Hilfe dringend vonnöten. Auch die Versorgung durch Ärzte war am Anfang überhaupt nicht möglich. Die deutschen Lazarettärzte kamen in amerikanische Gefangenschaft und die wenigen jüdischen Ärzte waren noch nicht arbeitsfähig.
Das hatte grausame Folgen. Denn die Besatzungssoldaten hatten großes Mitleid, aber keine medizinischen Sachkenntnisse und so wurde den von Hunger ausgemergelten ehemaligen Häftlingen keinerlei Diät angeboten, sondern Butter, festes Dosenfleisch usw. in Mengen, auf das sie sich gierig stürzten. Die Folge waren viele Todesfälle, meistens bei Nacht – hatten doch zum Beispiel die baltischen, aber auch viele polnischen KZ-Insassen seit Jahren kein Gramm Fett bekommen, nicht einmal Margarine. So kam es, dass viele eine Fettembolie erlitten und am Morgen auf den rasch improvisierten Strohlagern Tote lagen. Die Nachbarn baten uns diese doch abzuholen. Als später im Mai in den Klostergärten Obst und Beeren zu reifen begannen, aßen davon viele und starben an den unreifen Früchten. Man fragt sich heute: Wie konnte das geschehen? Niemand kann mehr nachvollziehen, welche Verwirrung damals in ganz Deutschland herrschte und alle uns jetzt selbstverständlichen Überlegungen unmöglich machte. Den Zustand, in dem sich die ehemaligen Häftlinge befanden, sollen diese Federzeichnungen schildern. Sie sind in keiner Weise übertrieben, sondern authentisch.
Die Menschen konnten nichts mehr fühlen, sie waren ausgebrannt. Die übermenschlichen psychischen und physischen Leiden hatten die Ausdrucksfähigkeit abgetötet. Der körperliche Zustand ist für uns heutige Menschen nicht zu schildern. Ich sehe sie heute noch vor mir – jeder Knochen deutlich sichtbar unter einer seltsam grau-trockenen Haut. Ich hatte beruflich als Bewegungstherapeutin mit ihnen auch in körperlichem Kontakt zu arbeiten und vergesse nie, wie sich das anfühlte: man berührte bei der Behandlung direkt die Knochen unter dieser schilfernen Haut.
Am Anfang erzählten sie wenig. Es gibt wohl eine Tragik des Leidens, die schlimmer wirkt als dramatische Ereignisse: das ist dieser entsetzlich graue, düstere Alltag in den Konzentrationslagern. Auf dem Bild 1 skizzierte ich den sogenannten Morgenappell.
Allmorgendlich um fünf Uhr oder früher, auch im Winter, mussten alle antreten. Sie hatten nichts Warmes zum Anziehen, die meisten litten an Durchfall, mussten aber in der Reihe stehenbleiben, sie durften nicht austreten. Der SS-Mann erschien oft erst nach Stunden. Wer zusammenbrach wurde sofort erschossen.
Das war Alltag.
Diese KZ-Atmosphäre war noch Monate nach der Befreiung im DP-Hospital sehr spürbar. Ich habe damals ein Erlebnis aufgeschrieben, das mich ganz besonders berührt hat: Ich hatte meinen Behandlungsraum im ersten Stock: dorthin konnten die Patienten kommen, die nach und nach wieder gehfähig wurden (Bild 2).
Eines Morgens kam ich verspätet in den Behandlungsraum. An beiden Massagebänken arbeiteten schon die Assistentinnen: die eine massierte gerade den Beinstumpf eines Amputierten, die andere behandelte einen halbgelähmten Patienten. Rundherum saßen wartend Patienten, immer noch in den gestreiften KZ-Jacken und Hosen. Quer zu den Massagebänken stand, in den Raum hinein, eine niedrige Trage am Boden (Bild 3).
Diese Tragen bestanden damals nur aus zwei langen Stöcken mit einer Tuchbespannung dazwischen. Darauf lag ein Toter, unbekleidet, das Papierhemd zusammengelegt auf der Brust. Niemand hatte Zeit gehabt, es ihm anzuziehen und niemand achtete auf ihn. Als ich die Patienten bat aus Achtung vor dem Toten den Raum zu verlassen, schauten sie mich nur erstaunt an und sagten: „Was macht das schon, ein Toter – Tote sind doch immer da.“ Nachdem sie dann doch murrend gegangen waren, zog ich dem Toten mit Hilfe einer Assistentin das Papierhemd an. Die Totenstarre war bereits eingetreten und wir hatten unsere Mühe. Dann suchte ich nach einem Pfleger. Als ich endlich einen fand, sagte er zu mir: „Ihr müßt eben warten. Es gab heute morgen schon so viele Tote abzuholen, dass wir gar nicht nachkommen.“
Am selben Morgen sah ich einen alten Mann auf einer Trage im Flur liegen. Er hatte Durst und ich gab ihm Wasser. Am selben Tag ist er gestorben (Bild 4).
Die Toten wurden in den kleinen Friedhof gebracht, der sich am anderen Ende des Geländes neben dem katholischen Friedhof befand und schnell angelegt worden war: man hatte zwei Massengräber ausheben müssen – anfangs wäre eine andere Begräbnisart unmöglich gewesen, denn meist kannte niemand den Namen der Toten (ich habe nie erlebt, dass jemand mit Ehepartner oder Verwandten dort angekommen wäre). Viele waren schon im Viehwaggonzug gestorben, andere Sterbende konnten nicht mehr sprechen. Die Namen, die zu den in die Haut eintätowierten Nummern gehörten, waren damals nicht festzustellen. Das Pflegepersonal war überlastet und niemand hätte Zeit gehabt, viele Einzelgräber auszuheben. Später bekamen diejenigen, deren Namen man noch feststellen konnte, Grabsteine – und diejenigen, die später, in den folgenden Jahren bis 1947 starben, bekamen Einzelgräber, die man heute noch sieht (Bild 5).
Eine große Schwierigkeit für die Verständigung war auch das Sprachengewirr, das dort herrschte. Man sprach Jiddisch, Polnisch, Russisch, baltische Sprachen und Ungarisch. Letzteres bot eine besondere Schwierigkeit: Wir fanden damals niemanden, der ungarisch dolmetschen konnte. Die ungarischen Juden bildeten eine besondere Gruppe. Diejenigen, die bei uns waren, beherrschten keine andere Sprache. So ergaben sich oft ganz absonderliche Situationen. Meine Chefin war eine russische Chirurgin, die in Kowno ein Spital geleitet hatte. Eines Tages wurde sie zu einer ungarischen Patientin gerufen, die sich wand vor Schmerzen. Immer wieder zeigte sie auf ihren Bauch, der aufgetrieben war wie bei vielen, die so lange gehungert hatten. Die Ärztin war völlig ratlos, sie verstand kein Wort. Bis sich plötzlich ergab, dass die Frau ein Kind gebar. Mutter und Kind konnten gesund entlassen werden – sie gingen 1947 nach Amerika zu Verwandten.
Besonders in Erinnerung geblieben ist mir der Fall eines siebzehnjährigen Jungen, den ich selber von Anfang an behandelt habe. Auf Bild 6 sehen Sie auf den unteren drei Zeichnungen, in welchem Zustand er bei uns ankam: nicht nur abgemagert, sondern die Fersen fest ans Gesäß gedrückt. Er konnte die Beine keinen Zentimeter weit ausstrecken, die Sehnen unter den Kniegelenken waren steinhart und verkürzt; medizinisch heißt das eine Beugekontraktur (Bild 6).
Dieser Junge hatte im KZ Typhus bekommen. Typhuskranke wurden getötet. Er aber hatte das Glück, von einem „guten Kapo“ im Kohlenkeller versteckt zu werden, zwischen den Kohlehaufen. Dort war zu wenig Platz, nur 1,20 Meter Zwischenraum. So musste er sechs Wochen mit angezogenen Beinen liegen bis zur Befreiung. Oben rechts auf derselben Zeichnung sehen Sie den Beginn der Behandlung, und oben links versucht die Therapeutin gerade, ihn wieder vorsichtig auf die Füße und zum Gehen zu bringen. Es war wie ein Wunder – er wurde wieder völlig gesund.
Unvergesslich ist sicher vielen Teilnehmern der erste Gottesdienst geblieben, den die Patienten nach jüdischem Ritus auf dem Platz vor dem Seminar abhielten (Bild 7).
Hatten sie doch viele Jahre ihren Ritus nicht ausüben, ja nicht einmal ihre Lieder singen dürfen. Darauf standen im KZ strenge Strafen. Nun sind ja gerade die Ostjuden sehr religiös – Martin Buber und Friedrich Weinreb waren bekannte Vertreter der chassidischen Weisheit, einer tiefen religiösen Lebenseinstellung der Ostjuden. Für alle orthodoxen Juden bedeutet das Verbot von Gesängen und Riten eine seelische Demütigung, die wir uns kaum vorstellen können. Auf der Zeichnung konnte nur angedeutet werden, wie sich eine große Menschenmenge versammelt hatte. Alle wollten dabeisein, und so schleppten wir auch diejenigen, die noch nicht gehen konnten, auf Tragen heran; viele wurden in Rollstühlen geschoben, andere, die noch zu schwach waren zum Gehen, wurden geführt von Mitpatienten oder kamen mühsam an Krücken. Die meisten hatten noch keine andere Kleidung, als die gestreifte KZ-Kleidung. Es waren Rabbiner unter den Patienten. So stand ein Vorbeter mit einem weißen Tuch über den Schultern vor der Menge; auch viele andere hatten sich weiße Tücher um die Schultem gelegt und das Haupt bedeckt. Sie bewegten sich im Rhythmus ihrer Lieder, jeder sang vor sich hin mit solch inbrünstiger Begeisterung, dass wir tief ergriffen waren. Es waren zu dieser Zeit auch schon der Abt des Klosters und mehrere Patres aus dem Krieg zurückgekehrt. Auch diese sah ich neben der Menge stehen, und mancher hatte Tränen in den Augen. Es mag sein, dass dieser oder jener sich daran erinnerte, dass viele Texte, die den katholischen Gottesdienst mittragen, aus der jüdischen Bibel stammen und jüdischen Ursprungs sind. Mancher mag sich auch daran erinnern, dass Jesus genau so ein orthodoxer Jude gewesen war.
Aber auch damals waren die Leiden nicht zu Ende. So fanden wir zu unserem großen Kummer eines Morgens an einem Baum, direkt vor dem Kloster, die Leiche eines jungen Mannes; er hatte sich nachts aufgehängt. Er war ein russischer Mathematiker gewesen und noch heute sehe ich sein blasses, sensibles, schmales Gesicht vor mir. Über ein Jahr nach der Befreiung litt er immer noch so sehr unter den Demütigungen, die er im KZ erduldet hatte und wohl auch unter dem Lagerleben, dass er nur noch den Ausweg in den Tod sah. Seinen Grabstein sieht man im kleinen Friedhof. Ich besuche ihn noch oft.
Er war aber nicht der einzige, der später noch freiwillig aus dem Leben schied; – als alle körperlichen Entbehrungen schon lange überwunden waren, waren die seelischen Wunden noch lange nicht verheilt.
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