von Manfred Deiler.
Erstveröffentlichung in: Landsberg im 20. Jahrhundert – Themenhefte zur Landsberger Zeitgeschichte – Heft 6: Landsberg 1945 – 1950: Der jüdische Neubeginn nach der Shoa Vom DP-Lager Landsberg ging die Zukunft aus – ISBN: 3-9803775-5-5.
Es ist Frühjahr 1946. Die Menschen sehnen sich nach einem geregelten und normalen Leben. Lebensmittel und Heizmaterial sind äußerst knapp, der Schwarzmarkt blüht. In vielen Familien sind Hunger und Not zu Gast. Lebensmittelkarten regeln die Versorgung, Wohnraum ist Mangelware in dieser Zeit, immer mehr Vertriebene und Flüchtlinge drängen in die Lechstadt. Wohnungen sind zum Teil von der Militärregierung beschlagnahmt, die Eigentümer leben ausquartiert unter beengten Verhältnissen. Mehrere Personen teilen sich ein einziges Zimmer.
Viele Überlebende der Konzentrationslager von Landsberg und Kaufering sind heimatlos. Sie wurden von ihren Angehörigen getrennt und verschleppt, ihre Familien wurden auseinandergerissen. Viele haben vom Ehepartner, den Kindern oder den Eltern noch immer kein Lebenszeichen. Andere haben Gewißheit, ihre Angehörigen wurden vergast, ermordet, verbrannt, verscharrt. Zwischen 4000 und 5000 dieser verschleppten Menschen leben im Frühjahr 1946 als „Displaced Persons“ in der Saarburgkaserne in Landsberg. Das DP-Camp Landsberg, wie es die amerikanische Militärregierung nennt, beherbergt zu dieser Zeit fast ein Drittel der Einwohner Landsbergs. Aber auch in der Stadt selbst, sowie in Dießen, Greifenberg, Holzhausen, Hübschenried und in St. Ottilien wohnen und leben DPs.
Die Überlebenden der Konzentrationslager sind in der Bevölkerung unbeliebt. Das schlechte Gewissen regt sich. Schon die bloße Anwesenheit der DPs im „Ausländerlager“ erinnert tagtäglich an die Greueltaten vor der eigenen Haustüre. Viele wollen nicht hinnehmen, daß die Stadt Landsberg einen großen Teil der begehrten Lebensmittel an das „Ausländerlager“ in der Saarburgkaserne abzugeben hat und kritisieren, daß „die Deutschen in Kellern und auf Dachböden leben, während die Juden in der Kaserne die schönsten Wohnungen haben.“
Viele DPs dagegen können „den Deutschen“ das Leid und das Unrecht, das ihnen oder ihren Angehörigen angetan wurde, nicht vergeben. Die Situation zwischen DPs und der Landsberger Bevölkerung ist geladen und angespannt.
Am Morgen des 28. April 1946 gegen sieben Uhr erreicht den Landsberger Militärgouverneur Captain H. Mott eine Nachricht, die ihn veranlaßt sich unverzüglich auf den Weg nach Dießen zu machen.
In Dießen, achtzehn Kilometer von Landsberg entfernt, befindet sich zu dieser Zeit im Gasthaus „Finster“ der Kibbuz „Dror“ der eine Töpferfachschule mit 50 DPs betreibt. In der Nacht vom 27. zum 28. April verdoppelt die Kibbuzleitung die Wachposten. Verdächtige Personen hatten sich vor dem Kibbuz herumgetrieben. Die DPs fühlen sich bedroht und die Stimmung ist gereizt. Der 27. April 1946 ist ein besonderer Tag. Vor genau einem Jahr hatten die US-Streitkräfte die überlebenden KZ-Häftlinge aus den Konzentrationslagern von Kaufering und Landsberg befreit. Viele dunkle Erinnerungen werden in dieser Nacht wieder lebendig.
Die beiden ungarischen Juden Morchaj Rain und Oszer Blosztein werden als Wachposten eingeteilt. Als der Wachhabende am Sonntag, den 28. April gegen 3:30 Uhr seinen Kontrollgang macht, sind die beiden spurlos verschwunden. Im Kibbuz „Dror“ herrscht große Aufregung. Trotz intensiver Suche werden die beiden nicht gefunden. Man verständigt die Polizei und den Landsberger Militärgouverneur. Die Kibbuzleitung glaubt an eine Entführung.
Captain Mott leitet in Dießen sofort eine Untersuchung ein. Die beiden Wachposten bleiben verschwunden. Weitere Nachforschungen führen auf eine Spur. So will der Stationsvorsteher des Riederauer Bahnhofes zwei Personen gesehen haben, die gegen 5:30 Uhr in einen Zug eingestiegen waren, auf die die Beschreibung der beiden Wachposten paßte.
Das Gerücht über die Entführung der beiden Wachposten hat inzwischen das DP-Lager in Landsberg erreicht. Innerhalb kürzester Zeit werden dort die unglaublichsten Geschichten verbreitet: Mit Maschinenpistolen bewaffnete Deutsche hätten den Kibbuz „Dror“ überfallen, sechs jüdische Kinder entführt und sechs Juden getötet.
Verbittert und empört sammeln sich die Menschen gegen neun Uhr auf der Straße vor dem Haupteingang des DP-Lagers. Einige wollen spontan eine Demonstration organisieren um ihrer Erregung Luft zu machen, andere werden gewalttätig.
„Am 28. April 1946, gegen 9,30 Uhr brach unter den Juden in der Kaserne Landsbergs ein Aufstand aus. Die Juden zogen in Truppen zu hundertfünfzig, fünfzig und zehn Mann auf die Straße, überfielen zahlreiche Passanten, beraubten diese zum Teil und schlugen sie mit Stecken und stachen mit Messern zu “ heißt es im Bericht der Landsberger Polizei an den Sicherheitsoffizier der Militärregierung vom gleichen Tage.
Zwanzig Passanten, die an diesem Morgen den aufgebrachten DPs in die Hände fallen, müssen im Krankenhaus behandelt werden. Bei sieben Verletzten wird sogar ein stationärer Krankenhausaufenthalt erforderlich.
„… Als wir uns ungefähr in der Höhe des Kasernenbergs bei der Abzweigung zur Kaserne befanden, begegnete uns eine große Anzahl von Juden, es können etwa zwei- bis dreihundert gewesen sein. Einige riefen uns allerlei Schimpfnamen zu und stürzten sich auf uns. Sie bildeten einen Kreis und stießen mit Fäusten und Stiefelabsätzen auf uns ein. Ich habe ein großes Loch am Kopf und Hautabschürfungen an Armen und Füßen. Mein Kamerad E.* wurde durch einen Messerstich glaube ich, in der linken Nierengegend so stark verletzt, daß er ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte„, gibt ein damals sechzehnjähriger Oberschüler zu Protokoll.
Die 38jährige Josefa O.* berichtet: „…Ich wurde von einem Juden angehalten, der von mir den Ausweis forderte. Ich zeigte ihm ohne weiteres meine Ausweispapiere, die er vor mir zerriß und zu Boden warf. Während er vor mir die Papiere vernichtete, versetzte er mir mit der Faust einen kräftigen Schlag ins Gesicht, wobei ich aus Mund und Nase stark blutete. Der Mann gab dann ein Zeichen, worauf sofort aus dem Hinterhalt ein ganzes Rudel, bestehend aus etwa 8 bis 10 Mann und 1 Frau, auf mich losstürzten. Sie schlugen auf mich , während sie mich weitertrieben, heftig ein. … Die beteiligte Frau schnitt mir mit einer Schere einen Teil meiner Kopfhaare ab, wobei mir einige Angreifer mit Erschlagen und Erstechen drohten.“
Auch vor alten Frauen machen die aufgebrachten DPs nicht Halt. So gibt die 68jährige Johanna N.* am 29. April 1946 zu Protokoll: „…die Juden traten mich trotz meines Alters mit den Füßen und schlugen mich mit der Faust, so daß ich die ganze Zeit am Boden lag. Sobald ich mich erheben wollte, wurde ich erneut niedergeschlagen. Dabei sah ich, daß eine große Menge Juden über meinen Neffen hergefallen ist, der wie tot dagelegen ist. Die Juden nannten mich „Sohn einer Hündin“ und sagten, „ich müßte verrecken.“
Die aufgeregte Menge vergreift sich nicht nur an Passanten, sondern geht auch gegen vorbeifahrende Kraftfahrzeuge vor. Ein Lastwagen wird angehalten, ein „Hagelschauer von Steinen“ prasselt auf das Fahrzeug nieder, die Scheiben des Führerhauses gehen zu Bruch. Ein Teil der Ladung – fünf große Milchkannen – werden geraubt. Den Insassen gelingt die Flucht und sie kommen mit leichteren Verletzungen und dem Schrecken davon.
Der Kraftfahrer Adolf G.*, der mit einem Bus der BAWAG stadteinwärts fährt, kommt nicht so glimpflich davon: „Im nächsten Moment, als ich meinen Wagen zum Stehen gebracht hatte, wurden mir sämtliche Fensterscheiben meines Kraftfahrzeuges zertrümmert. Hierauf rissen sie die Wagentüre auf und zerrten mich gewaltsam aus dem Wagen heraus.“ Adolf G.* wird verprügelt. Er trägt eine Kopfwunde, Blutergüsse und Prellungen davon. Dann gelingt ihm die Flucht. Er verständigt seinen Vorgesetzten und die Militärregierung. Als seine Kollegen den Bus bergen wollen, finden sie nur ein ausgebranntes, völlig demoliertes Autowrack.
Wie ein Lauffeuer haben sich inzwischen Berichte und Gerüchte von den Ausschreitungen vor dem DP-Lager in der Stadt verbreitet und die Landsberger haben Angst. Gerade heute, am „Umsturztag„, wie die Bevölkerung den Tag der Befreiung durch die Amerikaner nennt, findet die erste Kreistagswahl in Bayern statt und mancher Bürger, der gerne seine Stimme abgegeben hätte, bleibt zu Hause.
Inzwischen hat die Landsberger Polizei Captain Lawrence, den Chef der Landsberger Militärpolizei, und Captain Mott von den Ausschreitungen verständigt. Major Thorston, Provost Marshal (Chef der Militärpolizei) der 9. Division in Augsburg, wird um Verstärkung gebeten und macht sich unverzüglich auf den Weg nach Landsberg. Als er gegen zehn Uhr hier eintrifft stößt er vor dem DP-Lager auf „eine aufgeregte Menge von mindestens 1000 Personen.“ Verzweifelt versucht eine kleine Gruppe Militärpolizei die Menschen ins Lager zurückzudrängen. Mayor Thorston übernimmt das Kommando und zusammen mit dem UNRRA-Direktor Dr. Adolphe Glassgold gelingt es, die Massen zu beruhigen und in die Kaserne zurückzudrängen. Doch die Ruhe ist trügerisch und nur von kurzer Dauer. Keine zwei Stunden später schleichen sich ungefähr 150 aufgebrachte DPs auf der unbewachten Rückseite aus dem DP-Lager und überfallen Baracken bei der Lechstaustufe 15. Wieder werden unschuldige Menschen bedroht, geschlagen und mit einem Messer verletzt. Die DPs zerschlagen Fensterscheiben, zertrümmern Möbel und beschädigen Geräte.
Lucie H.* berichtet: „Mein Mann versuchte auf die Leute gut einzureden und sie zu besänftigen. Die Juden schimpften und sagten, daß heute Nacht sechs Juden getötet worden seien und das müsse nun gerächt werden.“ Die Beschwichtigungsversuche des Ehegatten bleiben ohne Wirkung. Das Ehepaar wird verprügelt, mit Ziegelsteinen beworfen und mit einem Messer attackiert, bevor es sich in die Baracke retten kann.
Der Nachbar Josef K.* erlebt ähnliches: „…Sie waren bewaffnet mit Kabeln und Mauerklammern und einem Seitengewehr. Ich stand auf und fragte die Juden was los sei. Hierauf stach mich einer der Juden mit dem Seitengewehr in den linken Arm. Nun schleppten sie mich fort in Richtung Kaserne. Nach hundert Meter kam die Militärpolizei daher und befreite mich.“
Als der Chef der Militärpolizei, Major Thorston, von den erneuten Unruhen verständigt wird, zögert er keinen Augenblick und begibt sich selbst zur Lechstaustufe 15 um die Revolte im Keime zu ersticken: „Ich fuhr dorthin und sah eine große Menge auf der Wiese und eine weitere Gruppe, die von einem Haus zum Lager zurück wollte und dabei Fahrräder mitführte. Weiter entfernt sah ich zwei deutsche Zivilisten am Boden liegen. Ich befahl der Militärpolizei die Gruppe zu umzingeln. Darauf griffen sich die Leute unter die Arme und versuchten, geschlossen die Linie der Militärpolizei zu durchbrechen. Um Blutvergießen zu vermeiden, ließ ich die Absperrung an einer Seite öffnen. Nun kam aus dem Lager noch eine große Menge scheinbar zu Hilfe und begann uns mit Ausdrücken wie „SS, Gestapo“ usw. zu beschimpfen. Es wurden auch Steine auf uns geworfen.“
Die Situation wird für die Militärpolizei immer bedrohlicher. Die johlende Menge fordert lautstark die Freilassung von drei Juden, die kurze Zeit vorher von der MP verhaftet worden waren, weil sie deutsche Zivilisten mißhandelt hatten. „Amerikanische SS, Gestapo und SS-Schweine“ sind nur einige der Beschimpfungen, die sich die US-Soldaten gefallen lassen müssen. Die MP eröffnete das Feuer, gibt mehrere Salven über die Köpfe der Menschenmenge ab und forderte die Leute auf, in die Kaserne zurückzukehren. Major Thorston versucht die Situation zu entspannen: „Ich gab nun meine Pistole aus der Hand, ging auf die Leute zu und sagte ihnen, daß ich die Deutschen nicht schützen wolle, aber für Ruhe und Ordnung sorgen müßte. Durch einen UNRRA-Dolmetscher erfuhr ich, daß die Freigabe von drei Verhafteten gefordert wurde. Ich ließ sie holen und der Menge zurückgeben. Darauf zerstreute sich die Menge.“
Danach schlägt Thorston härtere Töne an. Er gibt der DP-Lagerleitung und der Direktion der UNRRA bekannt, daß ab 14:00 Uhr die Militärpolizei auf jeden erbarmungslos das Feuer eröffnen werde, der den Versuch wagte, das DP-Lager zu verlassen. Dann wird der Ausnahmezustand und über die ganze Stadt eine Ausgangssperre von 19:00 Uhr abends bis 5:00 Uhr morgens verhängt. MP-Streifen führen im ganzen Stadtgebiet verstärkt Kontrollen durch und durchsuchen die Bevölkerung nach Waffen.
Die ersten werden verhaftet. Major Thorston läßt in der Nähe der Lechstaustufe 15 einige Juden, von denen einer ein Messer bei sich trägt, abführen. DPs, die in die Altstadt oder nach Hause gehen wollen, werden festgenommen und arretiert. Auch eine Delegation, die sich auf dem Weg zur Militärpolizei befindet, um dort für die Freilassung ihrer drei verhafteten Kameraden zu bitten, wird verhaftet. Sie leisten keinerlei Widerstand. Insgesamt werden zwanzig Juden aus dem DP-Lager in Gewahrsam genommen. Der jüdische Aufstand von Landsberg ist erfolgreich niedergeschlagen.
Inzwischen ist Landsbergs 1. Bürgermeister Hermann Überreiter beim Militärgouverneur vorstellig geworden. Er wertet die verschärften Kontrollen der Zivilbevölkerung durch die Militärpolizei als „empfindliche Störung“ der Kreistagswahl. Captain Mott reagiert sofort und erreicht, daß „die Militärpolizei angewiesen wird, die Wahlhandlungen nicht zu beeinträchtigen.“ Überreiter ist zufrieden und kann am 9. Mai 1946 Staatskommissar Aumer, der für die Betreuung der Juden in Bayern zuständig ist, mitteilen, daß trotz aller „Unannehmlichkeiten, denen der einzelne Wähler unter Umständen ausgesetzt war, immerhin eine Wahlbeteiligung von 60 Prozent erreicht wurde“.
War schon zuvor die Haltung der Landsberger Bevölkerung gegenüber den Juden durch Mißtrauen und Ablehnung geprägt, so sinken die Sympathien für die jüdischen DPs nach den Ausschreitungen vom 28. April auf den absoluten Tiefpunkt.
Die Empörung vieler Bürger über die gewalttätigen DPs, die harmlose Bürger mißhandelt hatten, kommt so manchem gerade recht. Die Gelegenheit ist günstig. Plötzlich sieht man sich nicht mehr auf der Seite der Täter, die für das Leid und den Tod so vieler Juden mitverantwortlich sind, sondern kann sich selbst als Opfer eben dieser Juden darstellen, die in so brutaler Weise „deutsche Landsleute“ verprügelt und verletzt hatten. Endlich glaubt man beweisen zu können, daß Juden auch nicht besser als Deutsche seien.
Die Stadt selbst sieht durch den jüdischen Aufstand schließlich die Gelegenheit gekommen, „mehr Rechte für die Polizei“ in Landsberg durchzusetzen. Bürgermeister Überreiter, der hinter dem Aufstand „eine gewisse Regie“ vermutet, fährt zu diesem Zweck bereits am 30. April 1946 mit einer Abordnung zum bayerischen Innenminister Seyfried nach München. Der Staatskommissar für die Betreuung der Juden in Bayern, Aumer, bei dem Überreiter ebenfalls am selben Tag vorspricht, sagt unter dem Druck der Ereignisse „Erleichterungen für Landsberg“ zu und teilt ihm mit, „daß gegenwärtig 100.000 Ausreisezertifikate für DPs ausgestellt werden, so daß bald auch Landsberg eine fühlbare Entlastung erfahren werde.“
Im Landsberger Stadtrat gefällt man sich in der neuen Rolle des Opfers und versäumt keine Gelegenheit, auf die „tadellose Haltung der einheimischen Bevölkerung hinzuweisen, die leider damit belohnt wurde, daß man eine Sperrzeit von 19 Uhr bis 5 Uhr verhängte“.
Als die „Süddeutsche Zeitung“ am 29. April 1946 unter der Überschrift „Zusammenstöße in Landsberg“ über den jüdischen Aufstand berichtet, spricht Überreiter bei der Redaktion vor und verlangt eine Berichtigung des Artikels, da es sich „nicht um Zusammenstöße, sondern um Überfälle auf die Zivilbevölkerung handelte„. Als die Berliner Tageszeitung „Der Morgen“ am 30. April 1946 von einer „Schlägerei in Landsberg“ zu berichten weiß, verlangt Überreiter am 10. Mai in einem geharnischten Brief eine Richtigstellung des „völlig entstellenden und tendenziös aufgemachten“ Artikels.
Alle Protokolle, die diesen „Überfall auf die Bevölkerung“ dokumentieren und die zwischen dem 28. April und dem 7. Mai 1946 von der Landsberger Stadtpolizei angefertigt wurden, werden vervielfältigt und von der Stadt ohne Rücksicht auf die Beteiligten verbreitet.
In der Landsberger Bevölkerung sind inzwischen die verschiedensten Gerüchte im Umlauf. Die Landsberger Zeitung ist seit dem 27. April 1945 verboten und erhält keine Lizenz der Militärregierung. So ist man vor Ort auf Schilderungen aus zweiter und dritter Hand angewiesen. Übertreibungen und entstellenden Berichten sind Tür und Tor geöffnet. In den sich vielfach widersprechenden Erzählungen spiegelt sich meist Angst, Unsicherheit, aber auch Haß und blanker Antisemitismus wieder.
Als am Sonntag, den 5. Mai 1946, einige Kinder aus der Immelmannstraße über Bauchschmerzen, Müdigkeit und Durchfall klagen, ist man sich schnell darüber einig, daß ein Jude aus dem Ausländerlager die Kinder mit Bonbons vergiften wollte. Was mit diesen Kindern damals wirklich geschehen ist, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden. Tatsache jedenfalls ist, daß fünf besorgte Mütter diese Angelegenheit für so wichtig erachten, daß sie am 6. Mai 1946 bei der Landsberger Stadtpolizei eine Anzeige erstatten. Gleichzeitig sieht sich aber keine der Mütter veranlaßt, ihr Kind ärztlich behandeln zu lassen. Natürlich versäumt auch die Stadtverwaltung nicht, am 14. Mai 1946 im Amtsblatt darüber zu berichten. Dieser Vorfall paßt gut in die allgemeine Stimmungslage.
Die Ereignisse um den jüdischen Aufstand vom 28. April 1946 werden im Laufe der Zeit immer mehr verdreht und dramatisiert:
Laut Vernehmungsprotokoll der Landpolizei Kaufbeuren vom 29. April 1946 wird der Kraftfahrer Vitus R.* mit seinem Lastwagen am 28. April 1946, gegen 9:45 Uhr, vor dem DP-Lager angehalten und überfallen. Die wütende Menge zertrümmert die Scheiben des Führerhauses, bevor den verletzten Insassen die Flucht gelingt. Als Vitus R.* bei der Landpolizei Buchloe den Vorfall meldet, stellt er fest, daß ihm fünf Milchkannen samt Inhalt fehlen.
Zwei Tage später wird in der Sitzung des Verwaltungsausschusses der Stadt Landsberg am 2. Mai 1946 über diesen Vorfall berichtet: „…ein Milchauto wurde angehalten, umgeworfen und 200 Liter Milch vernichtet.“
Ein Jahr später, wird dem Landtagsabgeordneten Franz Michel ein Papier zur Verfügung gestellt, in dem behauptet wird: „…wurde von den Ausländern ein Milchauto umgeworfen und angezündet.“
Viele dieser Geschichten haben sich bis in die heutige Zeit gehalten und werden sogar heute noch in den verschiedensten Versionen in Landsberg kolportiert.
So erzählt man sich in Landsberg unter anderem bis heute, daß „ein mit Kommunionkindern besetzter Bus von Insassen des jüdischen DP Lagers angezündet wurde.“ Diese Version hat sich besonders hartnäckig gehalten und wurde zuletzt am 28. April 1993 im „Landsberger Tagblatt“ veröffentlicht.
Aus dem Omnibus der Bayerischen Wasserkraft AG, der am 28. April 1946 gegen 9:30 Uhr von jüdischen DPs gestoppt und – nachdem der Fahrzeuglenker Adolf G.* verprügelt wurde – von Unbekannten in Brand gesteckt worden war, ist im Laufe der Zeit „ein mit Kommunionkindern besetzter Bus“ geworden.
Natürlich wurde diese Geschichte besonders gerne geglaubt, denn an diesem Tag – es handelte sich um den sogenannten Weißen Sonntag – befanden sich tatsächlich die Erstkommunikanten auf dem Weg zur Kirche.
Doch weder im Vernehmungsprotokoll des Kraftfahrers Adolf G.*, das vom Chef der Landsberger Stadtpolizei am 29. April 1946 aufgenommen wurde, noch in den Veröffentlichungen der „Süddeutschen Zeitung“, der „Schwäbischen Landeszeitung“, der Berliner Tageszeitung „Der Morgen“, der jüdischen „Landsberger Lager Cajtung“, noch im „Amtsblatt“ der Stadt Landsberg oder in den Nachrichten der „American Forces Network Munich-Stuttgart“ findet sich der geringste Hinweis darauf, daß der „Omnibus von Kommunionkindern besetzt“ gewesen sein soll. Auch im Sitzungsprotokoll des Verwaltungsausschusses der Stadt Landsberg vom 2. Mai 1946, in dem die Vorfälle vom 28. April 1946 ausführlich behandelt werden, weist nichts, aber auch gar nichts darauf, was darauf schließen ließe, daß sich Kommunionkinder im Omnibus befunden hätten.
Auch in späteren Schilderungen der Vorfälle, wie zum Beispiel im Schreiben des Landsberger Bürgermeisters an den Staatskommissar für die Betreuung der Juden in Bayern vom 9. Mai 1946, in dem Schreiben an das Bayerische Staatsministerium des Innern vom 29. Januar 1947 oder in einem Schriftsatz der zur „Sicherung vor Übergriffen der Ausländer am Jahrestag ihrer Befreiung“ dem Abgeordneten Franz Michel als Hintergrundinformationen für einen Antrag im Landtag diente, finden wir nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, daß diese Erzählung auch nur einen Funken Wahrheit enthält.
Auch bei der amerikanischen Besatzungsmacht nimmt man es mit einer korrekten Berichterstattung nicht allzu genau. So wird in der „Incoming Message“ des „Office of Military Government for Germany“ am 29. April 1946 mitgeteilt, daß bei den Unruhen in Landsberg zwei Personen getötet worden seien. Dieser Nachricht wird dann gleich in der „New York Times“ vom 29. April 1946 noch eines darauf gesetzt, daß deutsche Wahlkabinen von „erregten DPs gestürmt worden“ seien.
Inzwischen hat die amerikanische Militärregierung die „Untersuchung der Zwischenfälle“ vom 28. April 1946 eingeleitet. Die „Schwäbische Landeszeitung“ teilt am 2. Mai 1946 mit, daß „die 20 inhaftierten Juden des Landsberger Aufstands“ am Freitag, den 3. Mai, unter der Anklage „der Störung der öffentlichen Ordnung und des Widerstands und Angriffs auf Organe der alliierten Truppen“ vor dem Schnellgericht der Militärregierung in Kaufbeuren abgeurteilt werden sollen.
Viele DPs werfen dem Landsberger Militärgouverneur Mott Antisemitismus vor und glauben, daß er sich „wegen dem Fall Dießen“ nicht genug engagiert hätte.
„4000 jüdische Einwohner des Landsberger Lagers für Heimatlose sind gegen die amerikanischen Besatzer in den Hungerstreik getreten„, lautet die Meldung der „jun. Press“ vom 30. April 1946. „Nieder mit den Amerikanern“, riefen die verbitterten Streikenden (…) und protestierten lautstark gegen die Verhaftung von 20 Juden, die im Zusammenhang mit den Ausschreitungen vom letzten Sonntag verhaftet wurden. „Amerikanischer Antisemitismus ist ärger als der Judenhaß der Deutschen“, schrie ein Teil der Demonstranten. Andere meinten: „Die amerikanische Demokratie ist nicht besser als das Naziregime“ … „Wir alle im Lager wollen solange nicht arbeiten und nicht essen, bis unsere 20 Brüder aus dem Landsberger Gefängnis, wo Hitler „Mein Kampf“ geschrieben hat, befreit werden.„
Ob diese Meldung die Zustände im DP-Lager korrekt wiedergeben, kann nicht mehr mit absoluter Sicherheit gesagt werden. Tatsache ist, daß sich der Vorsitzende im Komitee des DP-Lager in Landsberg, Dr. Samuel Gringauz, schärfstens gegen „diese Art der Berichterstattung“ verwahrt, in der „vom ersten bis zum letzten Wort nur hohles Zeug und ausgemachte Lügen“ verbreitet würden.
Der Prozeß gegen die 20 Juden beginnt am 3. Mai 1946 vor dem einfachen Militärgericht in Kaufbeuren ohne weitere Zwischenfälle. Als der zuständige Richter Captain Seymour D. Lubin wegen der „Schwere der Vergehen“ und dem zu vermutenden höheren Strafmaß das Verfahren an den Militärgerichtshof in Augsburg verweist, ist die Bestürzung nicht nur unter den Angeklagten groß, denn das amerikanische Gesetz sieht für Aufruhr sehr schwere Strafen bis hin zur Todesstrafe vor.
Der „Landsberger DP-Prozeß“ wird am Montag, den 13. Mai 1946 vor dem „Hohen Militärgericht“ im Ludwigsbau in Augsburg unter dem Vorsitz von Oberstleutnant Marlon Batty fortgesetzt. In wenigen Tagen ist die Beweisaufnahme abgeschlossen und Strafverteidiger Dr. Samuel Gringauz hält sein Abschlußplädoyer:
„Der Fall der 20. Angeklagten ist zu Ende. Es bleibt aber der Fall des 28. April 1946 in Landsberg. Wir wissen, daß das, was am 28. April in Landsberg geschehen ist im Gegensatz zu Recht und guter Ordnung gestanden hat. Wir empfinden dies als besonders schmerzlich, weil wir alle unter Ordnungslosigkeit und Gesetzlosigkeit gelitten haben. (…) Einer der Richter hat gesagt, daß das Leiden keine Entschuldigung ist. Das mag für das in Paragraphen niedergeschriebene Recht gelten. Doch wir haben eine andere Kulturtradition. Und die ist – Leiden und Martyrium macht heilig und das was heilig macht, das entschuldigt.“
Am 22. Mai 1946 ergeht das Urteil. In der Urteilsbegründung führt Oberstleutnant Batty aus, daß es während des ganzen Prozeßverlaufs „zu keinem entscheidenden Beweis gekommen ist, daß die Angeklagten an der Schlägerei, der Messerstecherei und Zerstörung von Eigentum teilgenommen haben. 19 der Angeklagten sind aber der Teilnahme an Aufruhr und der Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung überführt.“
Und er wendet sich an die Angeklagten persönlich: „Ohne Zweifel haben alle von Ihnen und Ihre Verwandten unbeschreibliche Leiden in den Händen der Deutschen durchgemacht, aber das berechtigt Sie nicht, zu einem solchen späten Zeitpunkt Vergeltungsmaßnahmen zu üben. Die US-Armee ist nunmehr für die Regierung in der amerikanischen Zone verantwortlich und kann weder durch Sie noch durch jemand anderen Verstöße gegen Gesetz und Ordnung dulden.“
Sechs Angeklagte werden zu zwei Jahren, zwölf Angeklagte zu einem Jahr und ein Angeklagter zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Ein Angeklagter wird freigesprochen.
Der stellvertretende Militärgouverneur für die amerikanische Besatzungszone, Generalleutnant Adcock, bestätigte die in Augsburg gesprochenen Urteile. Elf Urteile werden jedoch abgemildert und bei fünf der Verurteilten wird nach einer Verbüßung der Strafzeit von sechs Monaten das Urteil ausgesetzt. In seiner Entscheidung betont der stellvertretende Militärbefehlshaber, daß die Verurteilten „wohl schuldig sind, man bei der Festsetzung des Strafmaßes aber ihre Jugend und den Terror, dem sie während des Naziregimes unterworfen waren, berücksichtigen“ müsse.
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