von Michael Strasas.
Erstveröffentlichung in: Landsberg im 20. Jahrhundert – Themenhefte zur Landsberger Zeitgeschichte – Heft 1: Von Hitlers Festungshaft zum Kriegsverbrecher-Gefängnis N° 1: Die Landsberger Haftanstalt im Spiegel der Geschichte – ISBN: 3-9803775-0-4.
„Die Stimme des Herzens“ müsse jetzt sprechen, forderte der CSU-Bundestagsabgeordnete Dr. Richard Jäger vor 4.000 Landsbergern am 7. Januar 1951 und verlangte wie alle anderen Redner eine Begnadigung der zum Tode verurteilten Kriegsverbrecher. Der SPD-Bundesvorsitzende Kurt Schumacher befand kurz darauf: ,,Ein Teil grölte und tobte um die Rechtfertigung der Unmenschlichkeiten des Dritten Reichs.“ Es kam zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und jüdischen DPs.
Sonntag, 7. Januar 1951. 11 Uhr vormittags. Landsberg demonstriert am Hauptplatz gegen die Wiederaufnahme der Hinrichtungen im Landsberger Kriegsverbrechergefängnis. Am Freitag zuvor war die Fortführung der Hinrichtungen maßgeblichen Regierungsstellen in Bonn bekannt gegeben worden. Noch Freitagabend ging die Nachricht über den Münchner Rundfunk. Am darauffolgenden Dreikönigstag und am Sonntag Vormittag ließ die Stadtverwaltung mit Lautsprecherwagen die „Einwohner in Stadt und Land“ zur Protestkundgebung aufrufen. Bereits Wochen zuvor, am 18. November 1950 hatten sämtliche Landsberger Parteien eine Resolution verabschiedet, in der sie „die maßgebenden amerikanischen Dienststellen, die amerikanische Öffentlichkeit und besonders die amerikanischen Frauen“ aufforderten, „das Los der als Kriegsverbrecher verurteilten Deutschen im Landsberger Gefängnis“ grundlegend zu verändern: „schenkt an eurem Danksagungstage, zum Weihnachtsfest den Inhaftierten von Landsberg die Freiheit, schenkt den zum Tode Verurteilten das Leben…“ Diese Forderung sei nicht nur „eine Herzenssache der Landsberger Bevölkerung, sondern eine Herzenssache des ganzen deutschen Volkes.“
Diesem Aufruf waren denn auch 4.000 Menschen, darunter zwei Vertreter des Hauses Thurn und Taxis, gefolgt. Neben den Bundestagsabgeordneten Staatsrat Dr. Seelos (Bayern-Partei) und Dr. Richard Jäger (CSU) waren Landtagsabgeordnete, zahlreiche Vertreter von Kirchen und Behörden erschienen. In sieben Omnibussen waren jüdische DPs aus Lechfeld gekommen, um der Demonstration für die Kriegsverbrecher eine Gedenkfeier für die 90.000 von Ohlendorf „ermordeten Brüder“ entgegenzusetzen.
Oberbürgermeister Thoma eröffnete die Kundgebung: „Landsberg habe durch den Vollzug der Todesurteile einen traurigen Ruhm erhalten.“ Er erinnerte an die vielfachen Bemühungen des Stadtrates, der Verwaltung, der Einwohner wie auch der politischen Parteien, „um menschliche Gerechtigkeit für die Insassen des Kriegsverbrechergefängnis zu erreichen.“
Diese Insassen waren von amerikanischen und alliierten Gerichtshöfen in den verschiedenen Kriegsverbrecherprozessen verurteilt worden. Unter ihnen befanden sich NS-Täter unter anderem aus dem SS- und Konzentrationslagerprozess, dem Ärzteprozess, aus dem Prozess der Einsatzgruppen und Vernichtungskommandos, dem Krupp-Prozess und dem Minister-Prozess. Unter ihnen prominente Vertreter, wie z.B. Ernst von Weizsäcker oder Graf Lutz von Schwerin-Krosigk, der ehemalige Reichsfinanzminister Hitlers.
Die Amerikaner hatten nach dem Krieg die Landsberger Haftanstalt zum Kriegsverbrechergefängnis Nr. 1 (WCP No 1) gemacht. Hier nahm das Verbrechen seinen Anfang, als Adolf Hitler während seiner Festungshaft in „Mein Kampf“ seinen verbrecherischen Plan niederschrieb, der Millionen von Menschen auf der ganzen Welt das Leben kostete. Hier sollten seine Mittäter ihre gerechte Strafe finden.
Seither waren sechs Jahre vergangen. Deutschland stand vor der Wiederbewaffnung. Man gab sich selbstbewusst im Wirtschaftswunderland. Schon lange hatten sich alle möglichen gesellschaftlichen Kreise für die Begnadigung der Landsberger Kriegsverbrecher und einen endgültigen Schlußstrich unter die Vergangenheit eingesetzt. Das umstrittene Engagement der USA in Korea verschaffte revisionistischen Kräften Auftrieb. Mit dem neuen Grundgesetz war die Todesstrafe abgeschafft worden. Was also lag näher, als sich jetzt nochmals verstärkt für die Landsberger Kriegsverbrecher einzusetzen. Die offizielle Sprachregelung hatte ohnehin schon die Rechtmäßigkeit der Verurteilungen mehr und mehr in Frage gestellt. War zunächst eindeutig von „Kriegsverbrechern“ die Rede, so erhielten sie schon bald das Attribut „sogenannte“, wurden dann zu „Kriegsverurteilten“ und schließlich gar mit „Kriegsgefangenen“ gleichgesetzt.
Die bundesrepublikanische Öffentlichkeit blickte nach Landsberg. Für manche Kreise galt das WCP als ein Prüfstein dafür, wie ernst es Amerika mit der Souveränität des Juniorpartners BRD meinte. Auch der Vatikan machte sich für die Kriegsverbrecher stark. Am 25. Januar 1951 teilt die Apostolische Nuntiatur Stadtpfarrer Niklas mit, „dass der Heilige Stuhl schon seit langem sich dafür verwendet hat, dass die ganze Angelegenheit und die Rückstände von Kriegsverbrechen und Kriegsmaßnahmen in aller Gerechtigkeit und christlicher Liebe beglichen werden.“
Welche Schritte der Papst konkret für die Verurteilten unternahm, darüber hält sich die Nuntiatur bedeckt, „Aber er hat dies schon getan zu einer Zeit, als die politische Auffassung sowohl außerhalb Deutschlands, wie der Deutsche selbst, eine derartige Intervention viel schwieriger machte.“
In einer flammenden Rede forderte der Stimmkreiskandidat der CSU, Dr. Richard Jäger, auf dem Hauptplatz, „dass es die Pflicht eines jeden sei, die Stimme zu erheben, wenn im Staat auch nur einer zu Unrecht verurteilt würde“. „Man mag über die Zweckmäßigkeit des Grundgesetzes, mit dem die Todesstrafe abgeschafft wurde, streiten – nicht streiten kann man aber darüber, dass andere Staaten in unserem Lande noch die Todesstrafe vollziehen.“ Derselbe Richard Jäger erhielt später, wegen seines Kampfes für die Wiedereinführung der Todesstrafe, den Beinamen „Kopf-ab-Jäger“. Mehr Details dazu: Die Stimme der Vernunft: Jäger Rede am Landsberger Hauptplatz (PDF).
Der Hauptredner der Kundgebung, Staatsrat Dr. Seelos attackierte die Nürnberger Prozesse in scharfen Angriffen und tönte unter tosendem Beifall: „Amerika hat den Anspruch verloren, sich einen Rechtsstaat zu nennen.“ Er verglich, „das, was man bei den Deutschen als Verbrechen bezeichnete und ahndete und was in Korea geschieht“. Wenn man auf der einen Seite die Deutschen aufrufe zur Mitverteidigung Europas und auf der anderen Seite töte und hänge man, so sei dies nicht in Einklang zu bringen.
Die Rede von Seelos wurde von Zwischenrufen der jüdischen DPs unterbrochen. Die Süddeutsche Zeitung berichtet: „Hört man jedoch von der Landsberger Kundgebung vom 8. Januar, wo die 3000 Menschen sich nicht nur leidenschaftlich für die diskutable Begnadigung von Malmedy-Peiper bis hinüber zur indiskutablen von Einsatzgruppen von Ohlendorf einsetzten und die Demonstranten ihre Veranstaltung zu einer erstklassigen antisemitischen Hetze ausarten ließen – mit dem trauten NS-Ruf, ‚Juden raus!‘ und mit tätlichen Angriffen auf anwesende Juden -, so entbehrt das nicht eines gespenstischen, entmutigenden Zuges.“
Heinrich Sklarz vom Verein „Deutsche Rehabilitierung e.V.“ konkretisiert den Vorfall in einem Antrag an den Deutschen Bundestag: „Die Redner zugunsten Ohlendorf und Genossen wurden von den, zu einer Gedächtnisfeier für die von Ohlendorf ermordeten 90.000, versammelten Juden durch Zwischenrufe wie: ‚Diese Massenmörder‘, ‚diese Blutsäufer‘, unterbrochen. Daraufhin griff die mutige Polizei ein und verschaffte diesen Zwischenrufern die Wiedergutmachung mit dem Gummiknüppel. Einer der Geschlagenen fragte: ‚Warum schlagen Sie mich?‘, ‚Ich habe wohl ein Recht darauf, Massenmörder zu rufen, denn meine 14 Angehörigen sind alle von Ohlendorf umgebracht worden.‘ Die geistreiche Antwort des Polizisten war: ‚Geh nach Palästina‘.“
In einem Sonderdruck der Landsberger Nachrichten vom 11. Januar 1952 wendet sich der Ortsverband und die Stadtratsfraktion der CSU „Gegen die Verunglimpfung der Stadt Landsberg und ihrer Bevölkerung“: Es sei „gelinde gesagt, eine Unverschämtheit“, was Sklarz in Bezug auf die Kundgebung behauptet. „Herr Sklarz kam mit seinen Omnibussen angerauscht und wollte eine Demonstration, eine ,Gedächtnisfeier für die 94.000 von Ohlendorf ermordeten Juden‘ halten. Diese Demonstration war weder angemeldet, noch beabsichtigt. Beabsichtigt war aber seitens des Herrn Sklarz eine Sprengung der Kundgebung.“
Stadtrat Dr. Hoeglauer protestierte in einem Brief gegen die Darstellung der Süddeutschen Zeitung: „Keine Rede kann davon sein, dass die Demonstranten ihre Kundgebung zu einer erstklassigen antisemitischen Hetze ausarten ließen. Der NS-Ruf ,Juden raus!‘ ist nirgends gehört worden… Die einheimische Bevölkerung hat trotz der provozierenden Haltung der DP-Angehörigen eine mustergültige Disziplin an den Tag gelegt. Der gute Ablauf der Kundgebung war ihrer sicheren Leitung durch den 0berbürgermeister der Stadt, der Sachlichkeit der Redner und dem zielbewußten Einsatz der Polizeikräfte zu danken.“
Die Landsberger Nachrichten berichten weiter: „In Ruhe und Ordnung zerstreuten sich gegen 13 Uhr die Teilnehmer der Kundgebung und die DPs, die wohl nur das eine Ziel im Auge gehabt haben, die Protestkundgebung zu stören oder zu sprengen oder Kundgebungsteilnehmer zu Ausschreitungen zu veranlassen, aus welchem sie wieder Geschäfte gezogen hätten… Um aber der Protestkundgebung auch einen äußerlichen Nachdruck zu geben, hat die Faschingsgesellschaft beschlossen, die für den Sonntag abends angesetzt gewesene Inthronisation des Faschingsprinzenpaars ausfallen zu lassen und auf kommenden Mittwoch zu verlegen. Mit diesem Beschluss bekommt die würdige und ernste Protestkundgebung gegen die Wiederaufnahme der Hinrichtungen eine bedeutungsvolle Unterstreichung, die nicht übersehen werden kann.“
Am 31. Januar geben der amerikanische Hochkommissar McCloy und der Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Deutschland, General Thomas T. Handy ihre endgültige Entscheidung bezüglich der Gnadengesuche der in Landsberg inhaftierten Kriegsverbrecher bekannt. 21 Todeskandidaten werden begnadigt, darunter SS-Offiziere der Vernichtungskommandos und Einsatzgruppen und sechs zum Tode verurteilte Kriegsverbrecher im Malmedy-Fall. Kommentar dazu in der der Schwäbischen Zeitung vom 2. Februar 1951 (PDF).
Handy zu den Malmedy Begnadigungen: „Die Umwandlungen dieser Todesstrafen in lebenslänglich bedeutet nicht, dass auch nur der geringste Zweifel an der Schuld irgendeines der Angeklagten für die zur Last gelegten Vergehen besteht…. Niemand der die Prozeßakten wirklich gelesen hat kann die Tatsache anzweifeln, dass 142 unbewaffnete amerikanische Soldaten, die sich ergeben hatten, auf einem Feld an der Wegkreuzung von Malmedy aufgestellt wurden und teils von um sie gruppierten Panzerfahrzeugen aus mit Maschinengewehrfeuer niedergemäht worden sind.“
Bestätigt wurden die Todesurteile von Oswald Pohl, Paul Blobel, Werner Braune, Erich Naumann, Otto Ohlendorf, Hans Schmidt und Georg Schallermair.
6. Juni 1951. In der Landsberger Festung werden scharfe Sicherheitsmaßnahmen verfügt. Konstablertruppen in Jeeps mit Maschinengewehren fahren langsam durch die Stadt. Sonderwachen werden vor dem Gefängnis aufgestellt wo die letzten sieben ihrer Hinrichtung harren. Die Frauen der Verurteilten verlassen nach dem letzten Besuch in Tränen aufgelöst die Haftanstalt. Seit Februar hatten sie bereits zweimal „letzte Besuche“ gemacht, aber wenige Stunden vor der Hinrichtung erfolgte dann jeweils ein Aufschub. In Washington berät das Oberbundesgericht über einen nochmaligen Antrag auf Verschiebung der Hinrichtungen und lehnt ihn ab.
7. Juni 1951, 0.00 Uhr. Auf Befehl von Oberst Graham beginnen die Hinrichtungen, die bis 2.30 Uhr andauern. Der evangelische Anstaltsgeistliche Pfarrer Ermann überbringt um 1.40 Uhr den im Landsberger Bahnhofsrestaurant versammelten Angehörigen die Nachricht von der Hinrichtung.
Ohlendorf, Blobel und Naumann waren im Einsatzgruppenprozess am 10. April 1948 von einem amerikanischen Gericht in Nürnberg zum Tode durch den Strang verurteilt worden. Sie wurden als Führer der in Rußland operierenden Einsatzgruppen der Massentötung von Juden, Zigeunern und anderen den Nationalsozialisten „unerwünschten Elementen“ für schuldig befunden. Oswald Pohl war am 3. November 1941 im Nürnberger Pohl-Prozess als Chef des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes der SS, dem die Verwaltung sämtlicher Konzentrationslager unterstand, verurteilt. Georg Schallermair und Hans Schmidt wurden von einem amerikanischen Militärgericht in Dachau wegen Morden an KZ-Häftlingen verurteilt.
Kurz vor 23 Uhr, nachdem keinerlei Stopp mehr eingetroffen und zu erwarten war, eröffnete Oberst Graham jedem einzelnen in dessen Zelle, dass alle Bemühungen einen weiteren Aufschub zu erreichen gescheitert waren und die Hinrichtungen um Mitternacht begännen. Danach erteilten die beiden Anstaltsgeistlichen den Männern den letzten geistlichen Zuspruch.
Die Landsberger Nachrichten überlieferten die letzten Worte der Hingerichteten:
„Schallermair sagte: Hoffentlich wirkt mein Schicksal für die Kameraden, die am Leben bleiben. Dies ist mein letzter Gedanke.
Braune: Trotz meines Schicksals bin ich glücklich. Ich weiß mich ganz in dem Willen Gottes. In innerem Gehorsam zu meinem Schicksal gehe ich diesen letzten Weg. Auf seinem letzten Weg durch den Zellengang rief er mit schallender Stimme: Kameraden, es lebe Deutschland!
Auch Naumann war völlig gefaßt und ruhig. Er brachte zum Ausdruck, dass es ihn mit innerer Bitterkeit erfülle, weil so unendlich viel Bemühungen gerade in seinem Fall, eine Begnadigung zu erwirken, gescheitert seien. Er war von einem tiefen Dankesgefühl bewegt für alle seine Freunde und Helfer, die ihm in den letzten Monaten beigestanden.
Ohlendorf war unverändert fest und unerschütterlich wie immer. Er bleibe im Tod derselbe, der er immer im Leben war. Es erfülle ihn zwar mit großer Trauer, was werden soll, wenn die Gerechtigkeit im Westen so aussieht.
Schmidt protestierte gegen den kurzen Termin. Die Hinrichtung hätte 24 Stunden vorher angesagt werden müssen.
Was Pohl und Blobel noch zuletzt sprachen konnten wir leider nicht in Erfahrung bringen.“
Die Leichen von Schmidt, Braune, Ohlendorf und Schallermair wurden an deren Heimatorte überführt. Blobel, Naumann und Pohl wurden auf dem Spöttinger Friedhof beigesetzt.
Bei der Beerdigung des Buchenwald-Adjutanten Schmidt in Höxter kam es zu einer von der neonazistischen SRP organisierten Demonstration. 500 Personen gelang es trotz Absperrung bis zum Grab vorzudringen. Der SRP-Kreisvorsitzende Franz Pütz ergriff das Wort und legte einen Kranz mit der Aufschrift „Ich hatt‘ einen Kameraden“ nieder. Als die Polizei den Friedhof freigab, defilierten mehrere tausend Menschen am offenen Grab vorbei.
Landsberg beklagte, dass man aufgrund dieser Demonstration wieder durch die „erhöhte Patrouillentätigkeit der Besatzungstruppe“ zu leiden habe.
Im Frühjahr 1958 wird das Kriegsverbrechergefängnis geräumt. Die letzten 11 Kriegsverbrecher werden entlassen. Die Bayerische Justizverwaltung kann das gesamte Gefängnis übernehmen.
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