aufbereitet von Manfred Deiler.
Erstveröffentlichung in: Landsberg im 20. Jahrhundert – Themenhefte zur Landsberger Zeitgeschichte – Heft 6: Landsberg 1945 – 1950: Der jüdische Neubeginn nach der Shoa Vom DP-Lager Landsberg ging die Zukunft aus – ISBN: 3-9803775-5-5.
„Wir haben dieses Lager nur als eine Stufe der Vorbereitung und als Übergangslösung bis zu einem normalen Leben zu betrachten. Deshalb müssen wir in dieser Übergangsperiode alle Möglichkeiten ausschöpfen und alles versuchen, die übrig gebliebenen Juden auf ein neues Leben vorzubereiten.“
Mit diesen Worten eröffnete Jacob Olejski am 1. Oktober 1945 das erste Schuljahr im Landsberger DP-Lager. Fünf Monate nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern war es einigen aktiven DPs mit Unterstützung von Hilfsorganisationen gelungen, Schulunterricht für die jungen DPs in der Kaserne anzubieten. Die Worte Olejskis, des Gründers und ersten Leiters des „Kulturamts“ im DP-Lager, beziehen sich jedoch nicht nur auf das schulische Angebot. Wichtig war nach den Jahren als KZ-Häftling und Zwangsarbeiter, in denen vieles an Können und Wissen vergessen und verlernt worden war, neben der geistigen Bildung auch schlicht Anregung und Zerstreuung, die Teilhabe an kulturellen Ereignissen und das Erleben „schöner“ Dinge. So gehörten zu den Arbeitsbereichen des Kulturamts nicht nur die praktischen, auf die Zukunft hin orientierten schulischen und beruflichen Bildungsangebote, sondern auch Kino, Theater und Sport.
Vor allem die kulturellen Einrichtungen des Lagers halfen, die Saarburgkaserne von einem reinen Aufbewahrungslager für die durch die Judenvernichtung und die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs heimatlosen Juden in eine eigene kleine „Stadt“ zu verwandeln und die Zeit dort nicht nur warten zu müssen, sondern sinnvoll nutzen zu können – wie in der eingangs zitierten Rede von Jacob Olejski. Betrachtet man das kulturelle Angebot im Lager, so erstaunt die große Vielfalt der Möglichkeiten, die sich die jüdischen DPs großteils in Eigeninitiative schufen. Die erste Filmvorführung im DP-Camp fand im Oktober 1945 statt: mit Charlie Chaplins „Goldrausch“ wurde das Lagerkino im ehemaligen Kinosaal der Kaserne eröffnet.
Irving Heymont berichtete in einem Brief an seine Frau: „Für viele Kinder unter den Zuschauern war es der erste Film ihres Lebens. AIs der Film anfing, sagte ein Kind, das in der Nähe von uns saß, mit scheuer Stimme in Jiddisch: ‚Der Film spricht.'“ Zwei Jahre später stand das Landsberger Lager dann selbst im Mittelpunkt eines Kinofilms: 1947 wurde der Film „Lang ist der Weg“ unter der Regie von Israel Becker teilweise in den Räumlichkeiten an der Katharinenstraße gedreht. Er schildert das Schicksal einer jüdischen Familie aus Warschau: Deportation, dem Sohn gelingt die Flucht, der Vater wird im KZ ermordet, die Mutter überlebt schwerkrank, ohne zu wissen, wo ihr Sohn ist. David, der „Held“ des Films, lebt und arbeitet einige Jahre im Landsberger Lager, wobei der Zuschauer sowohl die beengten Wohnverhältnisse als auch das Warten der DPs auf die Zukunft und die verzweifelte Suche nach überlebenden Angehörigen miterleben kann. Schließlich findet er seine alte kranke Mutter in einem DP-Krankenhaus.
Zum kulturellen Leben im DP-Lager gehörte auch das Theater. Es gab eine eigene Theatergruppe, den „Dramatischen Kreis“, sowie Gastspiele von Tourneegruppen anderer DP-Lager, die anfangs noch im Stadttheater auftraten, ehe ein Saal in der Kaserne – die alte Reithalle der Wehrmacht – hergerichtet worden war. Für die Landsberger Lager-Cajtung berichtete der Journalist Elenzttrajg von einer Aufführung 1947: „Beim Stürmen der historischen französischen Bastille ist das Gedränge sicherlich geringer gewesen als hier…“ Oft waren die Zuschauer ohne Kenntnis der Tradition jiddischen Theaters und betrachteten das Ganze mehr als Volksfest, das Dargebotene war nicht immer schon bühnenreif, doch gab es teilweise auch hochklassige Inszenierungen von Ensembles mit langer – von der Judenverfolgung und – Vernichtung unterbrochener – Tradition. Neben Lieder-Revuen und „Bunten Abenden“ mit satirischen Einlagen gab es Aufführungen von Stücken Scholem Alejchems, unter anderem „Tewje der Milchmann“. Die Landsberger DPs würden, so Elencwajg, die Darbietungen „wie ein ausgetrockneter Schwamm“ in sich aufsaugen.
Zu den weiteren Angeboten zur Bildung und Zerstreuung gehörte auch eine Bücherei mit Lesesaal. Die Versorgung mit Literatur und Büchern muss für viele jüdische DPs nach den Jahren stumpfsinniger Zwangsarbeit einen immens großen Lesehunger gestillt haben, wie der regelmäßig große Zulauf auf die von Hilfsorganisationen gespendeten Bücher zeigt. Man darf dabei jedoch nicht vergessen, dass viele der Überlebenden lange keine Energie hatten, sich zu Aktivitäten aufzuraffen, einfach psychisch zu erschöpft waren, zu einem interessanten Vortrag zu gehen oder sich die Gedichte in der Landsberger Lager-Cajtung zu Gemüte zu führen. Immer wieder versuchten die Mitarbeiter des Kulturamts, mit Wettbewerben, Plakaten und Aufrufen alle Bewohner des DP-Lagers zu einer Teilnahme am Kulturleben im Lager anzuregen. Auch diejenigen, die diese Angebote ins Leben gerufen hatten, waren nicht immer gleichbleibend in der Lage, die initiierten Seminare und Lesungen durchzuführen. Der Energieaufwand, mit den schrecklichen Erinnerungen und dem großen Verlust von Freunden und Angehörigen umzugehen, war ungeheuer groß. Betrachtet man Bandbreite und weitgehende Kontinuität der kulturellen Möglichkeiten im Lager, kann man die jeweiligen Organisatoren nur restlos bewundern.
Vieles, wenn nicht alles wäre jedoch ohne die Unterstützung der verschiedenen Hilfsorganisationen unmöglich gewesen. So wurde Miss Noel Ney, die 1947 als UNRRA-Mitarbeiterin in Landsberg war, in der Landsberger Lager-Cajtung extra für das „Tanzparkett“ gedankt, das sie in einer größeren Halle eingerichtet hatte und das Platz zum Tanzen für tausend Personen geboten haben soll. Die Tanzmusik wurde von einem kleinen Lagerorchester gespielt, weitere musikalische Angebote waren ein Chor und die Möglichkeit für Musikunterricht. Wie schön das Dargebotene klang, wissen wir nicht. Musikalischer Höhepunkt in den fünf Jahren, die es das DP-Lager Landsberg gab, war sicherlich der Auftritt Leonard Bernsteins, der im Mai 1948 das St. Ottilien Orchester in Landsberg dirigierte.
Ein Höhepunkt auf ganz anderem Gebiet waren die Auftritte des Fußballklubs „Ichud“. Die Landsberger DP-Mannschaft dominierte die Tabelle der zehn Clubs jüdischer DPs in der amerikanischen Besatzungszone lange Zeit und gewann mehrfach die Meisterschaft. Beim Boxen waren die Vertreter Landsbergs nicht ganz so erfolgreich, doch nahmen sie im Januar 1947 auch an den „Boks-majsterszaften“ im Münchner Circus Krone teil. Ein damals vierzehnjahriger DP erinnert sich heute noch daran, wie spannend das war, mit den ganzen „Großen“ bei diesem Ereignis dabeizusein. Im Lager gab es auch ein „Schachcafe“, in der Landsberger Lager-Cajtung wurden Spielzüge abgedruckt und 1946 fand die erste Schach-Olympiade der jüdischen DPs in Landsberg statt.
Das kulturelle Leben im Landsberger und in anderen DP-Camps wurde auch stark von der Lager-Cajtung geprägt, die in den knapp drei Jahren ihres Bestehens teilweise eine Auflage von bis zu 15.000 Exemplaren hatte, wobei jede einzelne Zeitung sicher von mehreren Personen gelesen worden ist. Sie war Organ der Lagerverwaltung, aber stellte auch die Verbindung mit der Außenwelt her: durch Berichte über die Weltpolitik, aus Palästina und aus anderen DP-Lagern. In ihr spielte sich auch ein Teil der intensiven Beschäftigung mit der unmittelbaren Vergangenheit ab: Artikelserien über das Leben im Ghetto, im KZ entstandene Gedichte und die Programme von Gedenkfeiern für verschiedene inzwischen zerstörte jüdische Gemeinden.
In diesen Bereich fällt auch die Arbeit der ,,Historischen Kommission“ des Landsberger Lagers, die unter anderem eine Ausstellung mit Bildern aus dem Ghetto organisierte und Dokumente der Erinnerung sammelte. Vergangenheit und Gegenwart wurden auch mit bissiger Ironie behandelt. So schrieb Samuel Gringauz, langjähriger Präsident des DP-Lagers, einen satirischen Artikel über die vergebliche Suche nach drei Nazis in Landsberg, die für einen (fiktiven) Film gesucht wurden, den Landsberger DPs – möglichst realistisch und lebensecht – drehen wollten. Weder in Landsberg – wo sich laut Bürgermeister die Brücken gebogen hätten ob der schweren Geschenke, die den Juden ins Lager gebracht worden wären – noch sonstwo in Deutschland, nicht einmal beim Nürnberger Prozeß seien „echte Nazis“ zu finden gewesen.
Zum Bildungsaspekt der Zeitung gehören auch Hebräisch-Lektionen und Übungstexte. Weitere Informationen erhielten die Landsberger DPs am „landsberger szpigl“, einer Art Schwarzem Brett mit Notizen und Aufrufen. 1946 wurden auch einmal täglich Nachrichten über einen großen Lautsprecher auf dem Hauptplatz des Lagers verlesen.
Mit allen Mitteln versuchten die Aktiven unter den DPs, eine weitgehende Normalität herzustellen und den Überlebenden der Konzentrationslager die Rückkehr in die „wirkliche Welt“ zu ermöglichen und zu erleichtern. Eine wichtige Funktion hatten dabei die verschiedenen Bildungseinrichtungen. Den Verantwortlichen lagen besonders die wenigen Kinder und Jugendlichen, aber auch die Mehrheit der überlebenden Juden, die zum Zeitpunkt der Befreiung zwischen 18 und 30 Jahre alt waren, am Herzen. Neben einem kleinen Kindergarten wurde im Oktober 1945 eine Volksschule mit anfangs zwei Klassen eingerichtet. Eine der ersten Lehrerinnen, selbst Überlebende, schildert die großen Schwierigkeiten, wie man mit diesen kleinen Waisen unbefangen über Themen wie „Zuhause“, „Familie“ oder „Vater und Mutter“ sprechen sollte. Ein Problem waren auch die Materialien und die fehlenden qualifizierten Lehrkräfte, die oft selbst erst in einem „Lehrer-Seminar“, das es ab 1946 im Landsberger Lager gab, fortgebildet werden mussten. Statt Tafeln gab es Bretter, doch fehlte oft Kreide, es gab anfangs weder Hefte noch Stifte, von Spielzeug für die Kleinen ganz zu schweigen. Dennoch gelang es, regelmäßigen Unterricht anzubieten. Eine kleine „jeshiwa“, eine religiöse Hochschule, ermöglichte interessierten Jugendlichen das Studium des Talmud.
Zur Erwachsenenbildung gehörte auch die „folks-uniwersytet“, eine Art Volkshochschule mit Vorträgen über Geschichte, Philosophie und Unterricht in Englisch und Hebräisch. Schulungen in Journalismus und „palästinographie“ gehörten ebenso zur Palette der Möglichkeiten.
Umfangreicher noch als das schulische Bildungsangebot waren die Möglichkeiten für handwerkliche und berufliche Ausbildung. Wiederum war es Jacob Olejski, der maßgeblich am Aufbau des „fachszuln-Angebots“ in Landsberg beteiligt war. Eine Art „Gewerbeschule“ mit verschiedenen Fachkursen sollte auf eine Zukunft in Palästina vorbereiten, aber auch die Bedürfnisse des Lagers abdecken. So gab es zum Beispiel bereits 1945 Zahntechniker-Kurse, da die Jahre im Konzentrationslager die Zähne der meisten ziemlich ruiniert hatten. Die Werkzeuge für die ersten Mechanikerkurse stammten teilweise aus den Überresten des KZ-Rüstungs-komplexes um Landsberg herum. DP-Lagerkommandant Irving Heymont war mit einem der Überlebenden an dessen ehemaligen Zwangsarbeitsplatz gefahren: „Überall stehen große Werkzeugmaschinen aller Art. Es stehen und liegen Maschinen im Wert von mehreren Millionen Dollar herum, so etwa Fräsen, Pressen, Hobel, Drehbänke usw. Es ist eine Ironie, dass ich die Männer hierher gebracht habe, um Feilen und anderes Handwerkszeug für die Lagerschulen zu holen“.
Zu den ersten Kursangeboten gehörten auch Lehrgänge für Krankenschwestern und Schneiderkurse.
Das Problem der Materialversorgung – Stoffe und Nähutensilien, Drähte und Bleche, Werk- und Rohstoffe – blieb die ganzen Jahre über bestehen. Auch hier war es schwierig, genug qualifiziertes und motiviertes Lehrpersonal zu finden. Der spätere Landsberger Berufschullehrer und Ingenieur Florian Albrich leitete 1947 das „elektrische Zenter“, des Lagers und stellte diesen Bereich auch in der Broschüre zum zweijährigen Jubiläum der Landsberger Kurse 1947 vor: er unterrichtete junge DPs in Autoelektrik, Radio- und Telefonmechanik. Dies ist einer der wenigen Bereiche, in denen es zu einer erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Landsbergern und Landsberger DPs in den Jahren 1945 bis 1950 kam.
Spätere Kurse bildeten neben Handwerkern und Mechanikern Maler, Tapezierer, Schweißer und Kunstschmiede aus. Angeboten wurde auch: Maschinenstricken, Kinderkonfektion und ein Hutmacherinnen-Kurs. Es gab Auto- und Motorradwerkstätten und landwirtschaftliche Fachkurse. Dieses fachlich breite Angebot verbesserte die Selbstversorgung im DP-Lager, ermöglichte aber vor allem, die Jahre im DP-Lager sinnvoll zu nutzen und ein wenig nach- und aufzuholen, was in den Jahren vor 1945 kaputt und unmöglich gemacht worden war.
Das Leben im DP-Lager war trotz des breiten kulturellen Angebots in den Bereichen der Kunst, Bildung und „Zerstreuung“ weit von einem normalen Leben entfernt. Es blieb ein Leben im Lager, im Wartezustand auf die Auswanderung und ein neues Leben. Dennoch gelang es den DPs in Landsberg, etwas aufzubauen und zu gestalten: eine Welt voll jiddischer Kunst, Musik und Literatur. Diese war nicht auf Dauer und Bestand angelegt, doch während ihrer Existenz war sie reich und voller Leben.
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