aufbereitet von Manfred Deiler.
Erstveröffentlichung in: Landsberg im 20. Jahrhundert – Themenhefte zur Landsberger Zeitgeschichte – Heft 5: Das SS-Arbeitslager Landsberg 1944/45: Französische Widerstandskämpfer im deutschen KZ – ISBN: 3-9803775-4-7.
Paul Guillerminet gehörte zu der eingeschworenen Gruppe von Widerstandskämpfern die vom Zentralgefängnis von Eysses in das SS-Arbeitslager Landsberg deportiert worden war. In seinem Bericht beschreibt er den Alltag im Lager und vor allem die Befreiung im KZ-Lager Kaufering III, wohin er mit einigen Kameraden „evakuiert“ worden war. Er überliefert auch einen Teil des Liedes, das die Häftlinge zur Weihnachtszeit im KZ geschrieben haben und aus dem sie in einer verzweifelten Lage Hoffnung schöpften.
Am 14. Juli 1944 wurden wir in das Kommando Landsberg verlegt. Wir waren 300 Kameraden aus der französischen Widerstandsbewegung und fast alle kamen aus dem Zentralgefängnis von Eysses. In diesem Gefängnis waren Widerstandskämpfer der freien Zone Südfrankreichs inhaftiert, die von der Polizei der Vichy-Regierung verhaftet worden waren. Meine Kameraden und ich, die wir uns schon vom Zentralgefängnis kannten, waren eine verschworene Gemeinschaft. Dieser Zusammenhalt, diese Kameradschaft machte uns Hoffnung.
Wir waren vom 14. Juli 1944 bis zum 24. April 1945 im Kommando Landsberg. Wir waren in einer großen Turnhalle untergebracht, die extra für uns in ein Lager umgebaut worden war. Diese Turnhalle war von mehreren Reihen Stacheldrahtzaun umgeben. An den vier Ecken stand jeweils ein Wachturm, der mit bewaffneten Wachsoldaten und Wachhunden besetzt war. Wir hatten drei SS-Lagerführer. Der erste war ein sehr harter SS-Mann. Der zweite war ein guter Mensch, aber wir hatten ihn nur ungefähr zwei Wochen – es war um die Weihnachtszeit. Der dritte war ein unerbittlicher SS-Mann, der in das Lager oft eine junge Frau mitbrachte, die, so glaube ich, aus Grenoble stammte. Die Appelle dauerten zwei bis drei Stunden. Je nach Laune dieses SS-Mannes dauerten sie auch länger.
Während er uns zählte, fuchtelte er oft mit seiner Pistole zwischen unseren Köpfen herum und rauchte dicke Zigarren. Wir nannten ihn nur unseren „Brötchengeber“. Bei der Befreiung, so sagt man, wurde er von Bewohnern des benachbarten Dorfes Penzing, wo er wohnte, an die Amerikaner ausgeliefert.
Die Soldaten, die uns bewachten, verstanden keinen Spaß und hatten ständig den Finger am Abzug. Anfang 1945 wurden sie durch Soldaten, die erheblich älter waren – man nannte sie den Volkssturm – ausgetauscht. Diese Männer wechselten alle vierzehn Tage. Man sagte ihnen, dass wir Mörder, Verbrecher, Sittenstrolche und ähnliches seien. Sie hatten den Befehl beim geringsten Anlass zu schießen. Nach wenigen Tagen gelang es einigen unserer Kameraden oder französischen Kapos, die der deutschen Sprache mächtig waren, ihnen unsere Situation und den Grund unseres Hierseins zu erklären. Ihre Bösartigkeit und ihre Agressivität gegenüber uns ließ dadurch stark nach. Unser Arbeit bestand darin, die Startbahn für die neuen Düsenflugzeuge zu erweitern. Das Wesentlichste waren die Trassierungsarbeiten mit Schaufeln, Hacken und Kipploren. Dreimal hatten wir die Startbahn schon fast fertig, als alliierte Flugzeuge die Startbahn bombardierten und unsere Arbeit zunichte machten. Danach mussten wir jedesmal von vorne anfangen, die Bombentrichter zuschütten und Blindgänger ausgraben. Im Grunde genommen waren wir wie ein Bombenräumkommando. Glücklicherweise ist während unserer Arbeit nie eine Bombe explodiert.
Besonders übel war, dass wir neben unseren Wachmannschaften ständig junge Piloten im Nacken hatten, die unsere Arbeit überwachten und die uns jedesmal schlugen, wenn wir einen Augenblick mit der Arbeit aussetzten. Sie waren so verbissen, dass sie uns nicht einmal Luft holen ließen. Sie gehörten zur Hitlerjugend und sie waren wie wir erst zwanzig Jahre alt. Im Dezember, zwei Wochen vor Weihnachten, forderte der SS-Lagerführer fünfzig Freiwillige an, die mit Holz umgehen konnten, um Weihnachtsspielzeug für deutsche Kinder herzustellen. Diejenigen, die sich zu diesem Kommando meldeten, waren von allen anderen Kommandos befreit. Dazu wurde ihnen eine zusätzliche Essensration versprochen. Einer unserer Verantwortlichen wählte aus den Schwächsten und den Jüngsten die entsprechenden Leute für dieses Kommando aus. Ich wurde ebenfalls für dieses Kommando ausgewählt und erinnere mich, dass ich ein Holzpferd und ein Kriegsspielzeug aus Holz gebastelt habe. Zu Weihnachten entstand, während wir das Holzspielzeug bastelten, ein Lied. Leider erinnere ich mich nicht mehr an alle Strophen:
Während des Winters 1944/1945 hatte es oft bis zu 20 Grad unter dem Gefrierpunkt und es lag 50 bis 60 cm Schnee. Wir waren nur mit einem Hemd, einer Jacke und einer Stoffhose bekleidet. Im Winter hatten wir noch eine Mütze auf. Wir besaßen keine Strümpfe, sondern nur Fußlappen. Diese Lappen haben wir an den vier Enden über unsere Füße gebunden und in unsere Holzschuhe hineingesteckt. So gekleidet mussten wir jeden Tag drei Kilometer bis zur Baustelle gehen – auch im Winter. Als es nicht mehr möglich war, Erdarbeiten auszuführen, mussten wir die Landstraßen und die Straßen der benachbarten Dörfer von Schnee freischaufeln. Eine Begebenheit ist mir dabei ganz besonders in Erinnerung: Eine Frau schaute uns von ihrem Fenster aus zu. Sie gab uns ein Zeichen und hat dann jedem von uns ein Glas Schnaps angeboten. Jedesmal wenn der Wachhabende ihr den Rücken zuwandte, öffnete sie die Haustür ein kleines Stück. Wir waren zu sechst und jeder erhielt sein Glas Schnaps.
An einem Tag mussten wir den Schnee in Zehnerreihen festtreten. Wir waren fünfzig Mann und haben uns dazu alle an den Armen untergehakt. Auf diese Art wollte man den Flugplatz für alliierte Flugzeuge unkenntlich machen. Man wollte den Eindruck erwecken, dass es sich um Straßen in der Landschaft handle und so den Flugplatz tarnen.
Der 24. April 1945. Unser Kommando musste antreten und wir wurden mit unbekanntem Ziel fortgeschickt. Zuerst ging es zum Kommando Kaufering, wo wir noch am selben Tag ankamen. Dort wurden wir unglücklicher Weise von unseren Kameraden getrennt. Wir mussten antreten und ein SS-Mann zählte mit mir sechs Personen ab.
Wir wurden mit einem Lastwagen weggebracht. Als wir Unterwegs von einem alliierten Tiefflieger beschossen wurden, gingen wir hinter Bäumen in Deckung. Dann ging es weiter zum Kauferinger Bahnhof, um dort einen Eisenbahnwaggon, der Brot geladen hatte, zu entladen. Nachdem wir mit unserer Arbeit fertig waren, versteckte jeder ein oder zwei Brotlaibe unter seiner Häftlingskleidung. Das Brot wollten wir unseren Kameraden mitbringen. Als der erste von uns am Lagereingang durchsucht wurde, erhielt er sogleich zwei kräftige Ohrfeigen. Wir reagierten sofort und warfen unsere Brote fort. Es war bereits dunkel und so konnten die Wachen nicht sehen was wir taten.
Zurück in unserer Unterkunft erfuhren wir, dass unsere Kameraden schon abmarschiert waren. Wir waren verzweifelt, denn wir waren nur sechs Franzosen inmitten dieser Fremden. Die meisten, so glaube ich, waren Juden. Sie waren viel schwächer als wir und viele lagen im Sterben.
Die letzten Tage in Kaufering. Am Vorabend vor der Befreiung erging der Befehl das Lager zu räumen. Am Nachmittag luden wir jeweils zwanzig KZ-Häftlinge auf Handkarren und nachdem wir den Schwächsten geholfen hatten aufzusteigen, zogen wir in einer Kolonne aus dem Lager hinaus. Wir schoben unseren Handkarren ungefähr vier bis sechs Kilometer mitten in einen großen, dunklen Wald hinein. Wer dabei stürtzte und nicht wieder aufstehen konnte, erhielt eine Kugel in den Kopf und wurde im Straßengraben liegengelassen. Das geschah öfters.
Wir erreichten eine große Lichtung, auf der Eisenbahnwaggons bereitstanden. Wir luden unsere Kameraden in die Waggons und ich erinnere mich, dass unter ihnen auch drei waren, die aus der Normandie stammten. Einige Wachmänner blieben dort und wir kehrten ins Lager zurück, um die nächsten Kameraden zu holen. Gerade als wir erneut aufbrechen wollten, erhielten wir den Befehl zu warten und stehenzubleiben. Das Rote Kreuz stand am Lagertor und wollte das Lager sehen. Doch sie durften nicht hinein. Dann baten sie darum einige KZ-Häftlinge sehen zu dürfen. Unter den Häftlingen, die dafür ausgesucht wurden, befand sich auch einer meiner sechs französischen Kameraden. Zusammen mit anderen drei KZ-Häftlingen war er mehr als zwei Stunden weg. Danach war es viel zu spät weitere Transporte durchzuführen. Es war bereits Nacht und wir erhielten den Befehl uns zu entfernen.
Der nächste Morgen gegen neun Uhr. Durch die Spalten unserer Barackentür beobachte ich einen Wachmann, der versucht, sein Gewehr an einem Pfahl zu zerschlagen. Als wir das sehen, atmen wir auf. Mehr als eine Stunde lang fliegen Granatsplitter über unser Lager hinweg, doch niemand wird verletzt. Dann rührt sich nichts mehr. Es ist plötzlich ganz still. Wir gehen sehr vorsichtig zum Lagerausgang hinaus. Dort steht ein amerikanischer Panzer, der von einigen KZ-Häftlingen umringt wird. Die Amerikaner begrüßen uns und werfen Zigaretten zu. Wir haben, so glaube ich, geweint. Als die Amerikaner ihren Vormarsch fortsetzen, sehen wir uns im Lager genauer um. Welch ein Schrecken! Überall liegen Sterbende und ihre letzten Worte sind nur noch „Mama“ und „Gebt uns zu trinken“. Und das in allen Sprachen Europas. Es waren alles KZ-Häftlinge, die vor Hunger im Sterben lagen, oder die der Typhus dahinraffte. In welch guter Verfassung waren dagegen wir, die wir aus dem Lager Landsberg kamen. Zusammen mit meinen französischen Kameraden verließ ich dieses KZ, um ein Lager mit französischen Kriegsgefangenen aufzusuchen, das einige Kilometer weit entfernt war. Wir wurden dort sehr freundlich aufgenommen. Vorsichtshalber, für den Fall, dass die SS zurückkehren und nach uns suchen würde, tauschten sie unsere Häftlingskleidung gegen Zivilkleidung ein. Wir blieben einen Tag bei ihnen, bis wir weiterzogen, um den US-Kommandanten der Vortruppen zu finden und in Landsberg auf die amerikanischen Besatzungstruppen zu warten. Am zweiten Tag nach unserer Befreiung wollten wir wissen, was aus unseren Kameraden geworden war, die wir auf die Waggons mitten im Wald geladen hatten. Einer unserer Kameraden, Leonhard Heinemann, fuhr mit einem amerikanischen Soldaten in einem Jeep weg. Als er später zurückkehrt, erklärt er uns, dass die Waggons nicht mehr abgefahren seien, dass es dort aber viele Tote gegeben hätte. Niemand wußte, ob sie hingerichtet worden waren oder durch Fliegerangriffe ums Leben gekommen sind. Jedenfalls haben sie dort keinen Überlebenden mehr gefunden. Wir wurden im Landratsamt in Landsberg untergebracht und jeder von uns erhielt eine Waffe. Wir sollten bis zum Eintreffen der Besatzungstruppen als Polizeikräfte die Ordnung aufrecht erhalten. Die US-Kampfverbände mussten weiter vorrücken. Tatsächlich haben wir diese Polizeiaufgaben nicht übernommen. Wir waren zu glücklich, endlich frei zu sein. Zwei Tage später gaben wir dann unsere Waffen bei der Besatzungstruppe ab und das Rote Kreuz bereitete unsere Rückkehr nach Frankreich vor, die nur zehn Tage später erfolgte. Während dieser Zeit waren wir bei einem deutschen Ehepaar untergebracht. Der Sohn und der Schwiegersohn waren noch an der Front und sie hatten keine Nachricht von ihnen. Um Ruhe vor den amerikanischen Besatzungstruppen zu haben, hängten wir an der Hausfassade eine blau-weiß-rote Fahne auf – das war unsere französische Fahne. So wurde das Haus nicht von amerikanischen Besatzungstruppen durchsucht. Als wir Landsberg schließlich verließen, hatten das deutsche Ehepaar und seine Tochter Tränen in den Augen.
Am 27. April 1945 wurden wir befreit. Am 16. Mai 1945 kam ich wieder in Frankreich an.
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