Tonröhrenbaracken

Die Bestandsvermessungen durch das Vermessungsbüro Blume am Tonröhrenbauwerk 4 ergaben eine Länge von 13,50 m und eine Breite von 6,10 m. Die lichte Höhe beträgt im Scheitel des Gewölbes 2,80 m, im Kämpferbereich ca. 1,30 m. Das Bauwerk 4 ist 1 m in das Gelände eingetieft. Im Scheitel des Gewölbes befinden sich drei Entlüftungsöffnungen. In der Mitte des Raumes steht seitlich versetzt ein gemauerter Kamin.

Das aus zwei Lagen Tonröhren mit Zementmörtelüberdeckung bestehende Gewölbe steht im Kämpferbereich auf 40 cm breiten, 1,30 m hohen betonierten Sockeln auf, die nach außen auf jeder Seite sechs Widerlager haben. Die Gründungstiefe der Widerlager entspricht den Einbindetiefen der Sockelwände. Sie sind knapp 40 cm tief und 50 cm breit. Ihre Oberseite wurde in Verlängerung der Mörtelüberdeckung der Tonröhren abgezogen. Die Widerlager sind in Abständen von etwa 2,50 m entlang der Sockel angeordnet. Bei Tonröhrenbauwerk 4 ist das Niveau im Innenraum soweit abgesenkt, dass die Sockel kaum noch in den Untergrund einbinden.

Die Tonröhrengewölbe sind insgesamt 18 cm stark, die Erdüberdeckung beträgt 20 cm im Scheitel der Gewölbe. Am Fuß der Bauwerke nimmt die Dicke der Anschüttung deutlich auf über 1 m zu. Die Gewölbe wurden mit einem Teeranstrich abgedichtet. Am Kämpfer wurden für das Aufsetzen der ersten Tonröhren zwei Lagen Hochlochziegel leicht geneigt angesetzt. Die Tonröhren sind hier in einem Mörtelbett versetzt. Auf einigen Tonröhren fanden wir den bei der Herstellung der Röhren in den Ton eingestempelten Schriftzug „FUSÉE CÉRAMIQUE J. C. – S.G.D.G.“.

S.G.D.G. ist die Bezeichnung für ein Patent, wie es in Frankreich bis zum Jahr 1968 galt. Die Abkürzung steht für „Breveté Sans Garantie Du Gouvernement“ („Patent ohne Garantie der Regierung“). Weitergehende Recherchen brachten das Ergebnis, dass es sich bei den Initialen „J.C.“ um den französischen Architekten Jacques Couëlle handelt, der ab 1940 Patente für die Bauweise mit keramischen Rohrelementen erwarb.

Der Vergleich mit den Patentschriften von Jacques Couëlle und den Bauweisen in der Antike zeigt, dass die tatsächliche Ausführung bei den Tonröhrenbaracken im ehemaligen KZ-Lager Kaufering VII im Detail dadurch abweichen, dass die Tonröhren ohne Mörtel auf einer Leerschalung zusammengesetzt und mit ihrem zylindrischen Ende nach unten im Kämpfer (jede zweite Reihe versetzt, mit einer halben oder einer ganzen Tonröhre beginnend) vermörtelt wurden.

Die konischen Halsteile der einzelnen Röhrenreihen treffen am First aufeinander und wurden dort jeweils durch zugeschnittene zylindrische Passstücke (Muffe) verbunden. Über der ersten inneren Tonröhrenlage wurde eine Mörtelschicht aufgebracht, in die direkt die zweite Lage Tonröhren um eine halbe Röhre versetzt eingedrückt wurde. Die Mörtelschicht hat eine Dicke von 10 bis 15 mm. Als Deckschicht wurde eine weitere Mörtelschicht, die eine Mindestüberdeckung von 30 mm über den Tonröhren hat, aufgebracht. Untersuchungen während der Machbarkeitsstudie von 2011 haben ergeben, dass nur der intakte Verbund der Tonröhren, der Betonstege zwischen der inneren und äußeren Röhrenschale und der Deckschicht (Kompositbauweise) Standsicherheit für die Tonröhrengewölbe gewährleistet.

Wieviel Produktionsstätten Fusées Céramiques herstellten, ist derzeit unbekannt. Gesichert ist nur, dass die Ziegelei „Martin Frères“ im Quartier St-André bei Marseille um 1943 das Patent zur Herstellung dieser Tonröhren erwarb und diese tatsächlich produzierte. Dies ist durch Zeitzeugenberichte ehemaliger Arbeiter der Ziegelei „Martin Frères“ belegt. St-André war seit November 1943 Teil der von der Deutschen Wehrmacht kontrollierten sogenannten „Südzone“ Frankreichs.

Auf welchen Wegen die Tonröhren mit den Einheiten der Organisation Todt (OT) 1944 von Frankreich in den KZ-Lagerkomplex Kaufering gelangten, ist bisher nicht bekannt. Derzeit gibt es auch keine Quellen über die Verwendung von Tonröhren als Baumaterial durch die OT im Bereich des KZ-Lagerkomplexes Kaufering. Baupläne oder Aufbauanleitungen – wie sie von den in großen Stückzahlen dort errichteten OT-Feldbaracken (KZ-Erdhütten) bekannt sind – sind für die Baracken mit Tonröhrengewölben bisher nicht aufgefunden worden.
Die Art der Verwendung der Tonröhren durch die OT im KZ-Lagerkomplex Kaufering lässt jedoch darauf schließen, dass der OT vor Ort die Patentschriften von Jacques Couëlle unbekannt gewesen sein dürften. Weder wurden die Tonröhren als Binder in einem Rahmenwerk verwendet, noch wurden sie in einer Weise vermauert, dass sie sich zur Klimatisierung eigneten.

Die Tonröhren aus Terrakotta wurden mit einem Durchmesser von 80 mm und einer Gesamtlänge von etwa 303 mm hergestellt. Davon beträgt die Schaftlänge etwa 250 mm, der konische Hals 50 mm.

Eine Tonröhre wiegt in trockenem Zustand 1,1 Kilogramm. Die Wandungsstärke beträgt 10 mm. Die Röhren wurden maschinell im Strangpressverfahren mit nahtlosen Schäften und durchgehenden Kanneluren erzeugt und anschließend abgelängt und gestempelt. Der konische Hals wurde in der Folge „angedreht“. Das scheint plausibel, da von innen gesehen Quetschungen des Tons im Bereich des Halses zu erkennen sind. Die Kanneluren des Schaftes weisen ein Abdrehen am Halsansatz auf.

Der offene Boden der Röhren wurde in einem weiteren Arbeitsschritt leicht aufgeweitet, damit die Tonröhren besser ineinander gesteckt werden können.
Das Zentrallabor des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege (BLfD) hat bei der Analyse der Tonröhren festgestellt, dass die „Fusées Céramique“ eine Porosität von 35% bis 40% haben und eine Wasseraufnahmefähigkeit von 14% bis 16%. Der verbindende Mörtel, mit dem die Röhren auch überdeckt wurden, ist als Zementmörtel anzusprechen. Entnommene Mörtelproben haben eine mittlere Druckfestigkeit von 17N/mm² ergeben.

Bei Bauwerk 4 greifen die Tonröhrenbögen auf die gemauerten Fensterfronten über. Der Bogenabschluss wurde mit einer Rollschicht Ziegel hergestellt, die die Höhe der Humusüberdeckung aufnimmt und durch einen Mörtelkeil zur Oberkante des Gewölbes vermittelt. Der Bereich unter dem gemauerten Bogen ist ausgemauert und mit Fenster- und Türöffnungen versehen worden. Die Stirnseiten sind verputzt.

In den Tonröhrenbaracken wurden zwei Lagen mit jeweils 155 Reihen Tonröhren verarbeitet. Jede Reihe setzt sich aus 28 bzw. 29Tonröhren (die Unterschiede sind durch den Versatz bedingt) zusammen.

Jede Baracke besteht aus etwa 8.830 Röhren mit einem Gesamtgewicht von ca. 9,7 Tonnen. Alleine im ehemaligen KZ-Lager Kaufering VII wurden insgesamt etwa 53.000 Tonröhren verbaut. Diese Menge entspricht einem Bruttogewicht von ungefähr 58,2 Tonnen und benötigt ein Lagervolumen von etwa 80 m³. Bei einer Stapelhöhe von 1,04 m und Stapeltiefe von 1 m, wäre dieser Stapel 78,4 m lang.

Die Betonsockel der seitlichen Fundamente wurden im Schnellverfahren direkt ins Erdreich bzw. den anstehenden Boden gesetzt. Sowohl an der Außen- als auch an der Innenseite sind keine Baugruben festzustellen, d.h. im Profil schließt der alte, nicht umgelagerte Humushorizont und die Auffüllschicht bzw. die Rotlage direkt an die betonierte Außenwandung an. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der anstehende Kiesboden unmittelbar zum Betonieren der Sockel verwendet und somit ein einfach herzustellender Stampfbeton hergestellt wurde. Dieses Arbeitsverfahren spricht für eine zügige, genau geplante Ausführung der Tonröhrenunterkünfte im ehemaligen KZ-Lager Kaufering VII. Dementsprechend fanden sich keinerlei weiteren Befunde bzw. Fundobjekte. Allerdings befanden sich in der stark kieshaltigen Auffüllschicht und in der Humusüberdeckung auf den Gewölben Bruchstücke der verbauten Tonröhren.

Der Aushub aus der Grundfläche des Gebäudes und den Fundamentstreifen beträgt ca. 42 m³ und entspricht in etwa der Menge der Humus/Erdüberdeckung des Tonröhrengewölbes. Es ist daher wahrscheinlich, dass der Aushub nach Abschluss der Baumaßnahmen als Humus/Erdüberdeckung der Gewölbe diente. Neben der Tatsache, dass auf diese Weise das überschüssige Bodenmaterial effektiv entsorgt werden konnte, isolierte dieses zusätzlich die Baracken und wirkte sich positiv auf die Standsicherheit (Statik) des Gebäudes aus.

Weitere Erkenntnisse

Da bisher keine aussagekräftigen archäologischen Befunde bezüglich eines dauerhaften Bodenbelags während der Nutzung als Zwangsarbeiterunterkunft 1944/1945 vorliegen, ist es wahrscheinlich, dass der Fußboden der Tonröhenbaracke ebenso wie in den OT-Feldbaracken aus Holzbrettern bestand und dieser nach dem Krieg als Baumaterial bzw. Brennholz Verwendung gefunden haben könnte.

In allen drei intakten Baracken mit Tonröhrengewölben sind noch Reste der Elektroinstallation erhalten. Die Stromzuführung erfolgte jeweils an der nördlichen Schildwand. Die Bohrungen für die Kabeldurchführung finden sich neben den oberen östlichen Ecken der Fensterstöcke. Die Lichtleitungen wurden an den nördlichen Schildwänden bis zum Scheitel der Gebäude und von dort entlang des Scheitels bis auf Höhe des Kamins geführt. An den nördlichen Schildwänden, sowie an der Decke sind Isolatoren erhalten, die paarweise auf eingegipste Holzleisten aufgeschraubt sind.

Entlang dieser Isolatoren wurden jeweils zwei einpolige Kabel bis zur Höhe des Kamins geführt. Die beiden Kabel waren an den Isola-toren mit einem Draht befestigt – Reste der Befestigungsdrähte befinden sich zum Teil noch an den Isolatoren.

Botschaft aus der Vergangenheit

Auf einer schadhaften Tonröhre einer Tonröhrenbaracke haben sich mit Bleistift geschriebene, fast vollständig erhaltene Namenszüge vier deportierter jüdischer Zwangsarbeiterinnen aus Rhodos erhalten, die nach dem Ausbau des Notsicherungsgerüstes entdeckt wurden. Die auf der Tonröhre hinterlassenen Namenszüge der Zwangsarbeiterinnen wurden mit den Kopien der Häftlingskarteikarten, die uns vom International Tracing Service (ITS) Bad Arolsen übersandt wurden, verglichen. Die vier Namenszüge auf der Tonröhre gleichen in ihren individuellen Merkmalen den Unterschriften auf den Häftlingskarteikarten.

Rachel Sulam (Tochter von Ruben Sulam und Bulissa Hasson) wurde geboren in Rhodos am 16.2.1916. Sie wurde am 21.7.1944 in Rhodos verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Am 27. Oktober 1944 wurde sie in den KZ-Lagerkomplex Kaufering gebracht. Rachel Sulam überlebte in Kaufering. Sie wurde am 29. April 1945 befreit. Die Kauferinger Häftlingsnummer war 119875. Über ihr weiteres Schicksal ist bisher nichts bekannt.

Allegra Mallel (Tochter von Nissim Mallel und Zumul Habib) wurde geboren in Rhodos am 18. August 1913. Sie wurde am 21.7.1944 in Rhodos verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Am 27. Oktober 1944 wurde sie in KZ-LagerkomplexKaufering gebracht. Am 29. April 1945 befreit. Allegra Mallel überlebt im Außenlager Schleißheim. Die Kauferinger Häftlingsnummer war 119877. Stark geschwächt wurde sie nach ihrer Befreiung in ein Hospital nach Bologna gebracht. Trotz guter medizinischer Versorgung verstarb sie am 11. August 1945 an Tuberkulose und liegt in Bologna begraben.

Allegra Mallel

Laura Hasson (Tochter von Hasday Hasson und Lea Alhadeff) wurde geboren in Rhodos am 14. November 1914. Sie wurde am 21.7.1944 in Rhodos verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Mit Transport am 27. Oktober 1944 in den KZ-Lagerkomplex Kaufering gebracht. Am 29. April 1945 befreit. Laura Hasson überlebte im Frauenlager Dachau (r Baracke 30 im Stammlager). Die Kauferinger Häftlingsnummer war 119884. Laura Hasson ist Mitautorin des Artikels „L’odisea delle donne di Rodi“ ( ANED 24 , 1960 Seite 17-25) der 1987 im Band Drei der Dachauer Hefte auf den Seiten 158 bis 167 in deutscher Übersetzung abgedruckt wurde. Über das weitere Schicksal von Laura Hasson ist bisher nichts bekannt.

Suzanne Gaon, geboren in Rhodos am 04. April 1917. Sie wurde am 21.7.1944 in Rhodos verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Am 27. Oktober 1944 wurde sie in den KZ-Lagerkomplex Kaufering gebracht. Bei Suzanne Gaon ist über ihr weiteres Schicksal nichts bekannt. Sie ist nicht als tot in der Häftlingsliste eingetragen. Die Kauferinger Häftlingsnummer war 119891.

Zusammenfassung

Wesentliche Grundlagen für diesen Aufsatz bildeten die Erkenntnisse, die in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege während der Vorbereitung und Durchführung der Konservierungsmaßnahmen an den drei letzten erhaltenen Zwangsarbeiterbaracken mit Dachgewölben aus Tonröhren auf dem ehemaligen Konzentrationslager Kaufering VII gewonnen werden konnten. Ein Teil der in den Tonröhrenbaracken verbauten Tonröhren sind mit dem Signum „Fusées Céramique“ versehen. 1940 entwickelte der französische Architekt Jacques Couëlle eine patentierte Methode, um Bauten aus keramischen Wölbröhren (Fusées Céramique) zu errichten und beschrieb Konstrucktionstechniken, die sich grundlegend von der seit der Antike im westlichen Mittelmeerraum bekannten Bautechnik unterscheiden.
Die Zwangsarbeiterbaracken mit Gewölben aus „Fusées Céramique“ im ehemaligen Konzentrationslager Kaufering VII sind nicht nur die letzten original erhaltenen Häftlingsbaracken aus der NS-Zeit (Klassifikation: Von nationaler Bedeutung – sie prägen das kulturelle Erbe der Bundesrepublik Deutschland mit), sondern sind auch die letzten sichtbaren Zeugnisse von Bauten mit Tonröhrengewölben die während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Grundlage der Patente von Jacques Couëlle in Deutschland errichtet worden sind.

Autor: Manfred Deiler

Publikation: Tonröhrengewölbe-Baracken (Fusée céramique) im ehemaligen KZ-Lager Kaufering VII in Landsberg am Lech, Seite 75 – 86, Landsberger Geschichtsblätter, 114. Jahrgang – 2016

© 2016 bei Manfred Deiler; Alle Rechte der Verbreitung durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger aller Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

Verwendete Quellen:

  • Gutachten über den statisch-konstruktiven Zustand und notwendige Instandsetzungsmaßnahmen am Tonröhrenbauwerk 4 – Machbarkeitsstudie, Barthel & Maus und Franz Hölzl, München 29.09.2011
  • Materialkundliche Untersuchungen für die geplante Konservierung, Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege (BLfD) Zentrallabor, München, 05.05.2011
  • Ergebnisse (Gesamtplan) der Vermessungsarbeiten, Mai 2011, Vermessungsbüro Blume, München
  • Technischer Bericht der archäologischen Untersuchung: Landsberg am Lech, LL: KZ-Außenkommando Kaufering VII, Tonröhrenbauwerk 4, G-2014 der Europäischen Holocaustgedenkstätte (M-2014-348-1) Archäologiebüro ABD Dressler
  • Patent Nr. 866.693 , Marseille vom 27. April 1940 und erste Ergänzung zu Patent Nr. 866.698, Marseille vom 27. November 1941 – Nr. 52.088 (éléments tubulaires matières moulées à emboitement constituant des fermes portantes et plus particulièrement prévus pour l’établissement rapide de baraquements)
  • United States Patent Offices 2.413,690; Jacques Couelle; Tubular Structural Element
  • Patent Nr. 662.662, Bundesrepublik Deutschland vom 1. Januar 1949 auf Grundlage der Priorität der Anmeldungen vom 27. April 1940 und 27. November 1941 in Frankreich
  • International Tracing Service (ITS) Bad Arolsen; Schreibstubenkarte und Häftlingskarteikarte Allegra Mallel

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