„Ich werde der glücklichste Mensch sein, wenn ich einmal frei bin!“
Zusammenstellung und Transkription Manfred Deiler.
Slomo Pasternak wurde am 10. April 1909 in Wilna, Litauen geboren. Nach dem 1. Weltkrieg übersiedelte die Familie Pasternak nach Kovno. In dieser Stadt lebten damals 100.000 Juden und es gab eine große Synagoge in der sein Vater als Synagogendiener arbeitete. Mit 14 Jahren begann er eine Schneiderlehre. Er heiratete und baute sich eine kleine Schneiderwerkstatt auf. Aus dieser Ehe gingen zwei Töchter hervor.
Nach der Besetzung Litauens durch die Deutschen, musste die Familie Pasternak ins Getto übersiedeln. Während sie auf ein baldiges Kriegsende hofften, wurde ihre Lage immer verzweifelter, das Getto wurde in ein KZ-Lager umgewandelt. Am 8. Juli 1944 wurde seine ganze Familie in das Konzentrationslager Stutthof verschleppt. Hier wurden die Männer von den Frauen und Kindern getrennt, dort sah Slomo Pasternak seine Frau und seine beiden Töchter das letzte Mal. Erst nach dem Krieg erfuhr er, dass seine Frau, seine beiden Kinder, seine Mutter und seine Schwester nach Auschwitz gebracht und dort vergast worden waren. Nur seinem Bruder war die Flucht zu den litauischen Partisanen gelungen. Er überlebte und wanderte nach dem Krieg nach Israel aus.
Slomo Pasternak selbst wurde im Juli 1944, nachdem man ihn von seiner Familie getrennt hatte, in einem großen Transport in das KZ-Kommando Kaufering gebracht. Bis zum Oktober war er im KZ-Lager II bei Igling und musste bei der gefürchteten Moll-Nachtschicht arbeiten. Dann gelang es ihm durch einen Zufall in das KZ-Lager X nach Utting zu kommen. Nach der Befreiung ging es ihm sehr schlecht und er mußte lange Zeit in Lazaretten und Krankenhäusern verbringen. Trotz des erlittenen Unrechts, blieb er in Deutschland, baute sich in Türkheim eine neue Existenz auf und heiratete ein zweites Mal. Aus dieser Ehe gingen zwei Söhne hervor. Slomo Pasternak ist im Herbst des Jahres 2007 verstorben. Bis kurz vor seinem Tod stand erjeden Tag hinter dem Ladentisch seiner Schneiderwerkstatt in Türkheim.
Am 3. Mai 1993 schilderte er in einem Interview, wie er den Todesmarsch und seine Befreiung erlebte:
Am 15. April 1945 wurde das Lager X in Utting aufgelöst. Es hat einen Appell gegeben und man hat uns gesagt, dass wir vom Lager weggehen müssen. Wir wussten nicht recht, ob wir überhaupt gehen sollten, es hätte ja sein können, dass die das Lager auflösen und die Menschen vernichten. Viele Häftlinge haben gesagt, wir sollen nicht gehen. Unsere Wachmannschaft bestand aus älteren Leuten. Unter ihnen gab es einen Journalisten, der hat uns über alles auf dem laufenden gehalten und erzählt wie die militärische Lage ist. Von ihm wussten wir zwar dass die Lager aufgelöst werden sollten, den genauen Zeitpunkt kannten wir aber nicht. Kurz vor der Räumung des Lagers kam unser alter Lagerführer Bier zurück. Das war ein wunderbarer Mensch. Er hat im Lager niemals jemanden geschlagen oder beschimpft. Wenn das Wetter schlecht war dauerte der Appell bei ihm oft nur ein paar Minuten, dann durften wir in unsere Hütten gehen. Darüber sind wir sehr froh gewesen.
Damit wir es in unseren Erdhütten wärmer hatten, ist er mit uns an den Arbeitsplatz Holz stehlen gegangen. Und dann, an Weihnachten, sind wir zu einer Grube mit eingelegten Kartoffeln gegangen. Jeder durfte sich nehmen, soviel er wollte. Das war etwas ganz besonderes. Und zuletzt, als das Lager aufgelöst wurde, haben wir uns irgendwie gefreut, dass er zurückgekommen ist. Wir dachten, dass uns mit ihm nichts passieren könne.
Unser Marsch dauerte siebzehn Tage. Zuerst sind wir nach Landsberg marschiert. Von dort ging es weiter nach Dachau. Wir gingen in einer Kolonne, mussten in einer Reihe von drei oder vier Menschen nebeneinander marschieren und es ging sehr streng zu. Bis Dachau brauchten wir ein paar Tage – zwei oder drei Tage – genau kann ich das nicht mehr sagen. Wir sind am Tag marschiert und ganz langsam gegangen. In der Nacht sind wir auf den Wiesen gelegen. Es war fürchterlich kalt – wir haben so ein Pech gehabt – im April gab es noch sehr viel Schnee und es war sehr kalt. Wir haben uns ganz Eng aneinander gelegt und einer ist neben dem anderen gelegen. Geschlafen haben wir kaum. Man ist halt so gelegen und dann ist man weitergegangen.
In Dachau, so glaube ich, haben wir übernachtet Dort haben wir seit unserem Abmarsch das erste Mal etwas zu essen bekommen. Jeder bekam zwei kleine, ganz kleine Portionen Fleisch oder Fisch in Dosen. Siebzehn Tage und nur zwei Dosen für die ganze Zeit! Und nirgends die Möglichkeit irgendetwas zu organisieren! Ich habe natürlich nicht alles aufgegessen. Ich habe es aufbehalten und versteckt. Aber später habe ich gesehen – als einige Tage vorbei waren – vier oder fünf Tage – ich hab immer einen kleinen Bissen gegessen – und dann habe ich gesehen, wie die die Menschen überfallen. Wenn sie bei jemanden etwas gesehen haben, dann haben sie ihn überfallen und es ihm weggenommen. Da hab ich zu mir gesagt: ‚So, jetzt musst du alles aufessen.‘ Ich hab nicht viel gehabt, damals.
In Dachau waren viele Menschen und es wurde eine ganz große Kolonne zusammengestellt. Dann ging es zu Fuß weiter. Ich bin neben einem Landsmann marschiert, den hab ich seit dem Anfang gut gekannt. Und dann, in einer Ortschaft haben sich die Häftlinge auf dem Weg hingelegt und sind nicht weitergegangen. Dann sind die Einwohner gekommen und haben ihnen etwas zum Essen gebracht. Unsere Wachen haben nichts gemacht. Später wenn man nicht weitergegangen ist – wenn man nicht weitergehen konnte und man sich hingelegt hat – da wollten sie sehen, ob man tatsächlich nicht mehr weiter konnte oder ob man krank war. Dann haben sie es mit den Hunden probiert. Und wenn der Mensch nicht aufgestanden ist, dann haben sie ihn erschossen. So hat man erzählt.
Am 26., 27. oder 28. April, ich kam nicht mehr sagen, wann das genau war, da haben wir gehört, dass der Krieg aus sei. Wir waren mitten in einem Wald und es ging wie ein Lauffeuer herum. Das wurde im Rundfunk gesendet. Irgendwelche Aufständischen sind in den Besitz eines Rundfunksenders gekommen und haben das durchgegeben. Wir haben unsere Posten gefragt und kamen zu dem Ergebnis, dass der Krieg zu Ende sei. Es war für uns die größte Freude, als wir das gehört haben – das war die größte Freude! Aber unsere Freude hat nicht lange gehalten, wir mussten weitermarschieren. Ja, so ist das gewesen. Das war so um den 27. oder 28. April 1945.
Anfang Mai habe ich fast keine Kraft mehr gehabt. Ich habe gefühlt – ich wollte mich ausruhen, nur ausruhen. Die ganze Zeit ist man nur gegangen und gegangen und gegangen. Es sind viele Menschen gestorben. Ich habe mich gewundert, dass ein Mensch soviel aushalten kann. Wir haben gesagt, dass ein Tier nicht soviel aushalten kann wie ein Mensch. Aber Hoffnung habe ich immer gehabt. Ich habe mir vorgestellt, dass ich der glücklichste Mensch auf der Welt sein werde, wenn ich einmal frei bin.
Ein Tag bevor die Sache zu Ende ging, waren wir zwei oder drei Kilometer von Waakirchen entfernt. Es hat furchtbar geschneit, es war nass und kalt. Ich habe mir gedacht, ich kann mich da nicht hinlegen. Wer nicht gestanden ist, der war verloren und die Menschen, die sich hingelegt haben, sind nie mehr aus dem Wasser und dem Schnee aufgestanden. Viele sind vor Erschöpfung und Hunger gestorben. Wir haben probiert ein Feuer zu machen. Es ist nicht gegangen. Und dann haben wir von weitem einen Bus gesehen – einen großen Bus. Der lag im Graben – umgedreht. Da habe ich mir gedacht – also an Essen habe ich nicht gedacht – ich habe immer gedacht, so richtig ausruhen – einschlafen – richtig ausschlafen.
Wenn ich vom Lagerplatz weggehen und in den Bus hinein könnte – das habe ich mir eine Weile so vorgestellt. Aber ich habe das nicht riskiert, denn es gab den Befehl, dass jeder der sich vom Lagerplatz entfernt, erschossen wird. Ich habe den ganzen Tag bis es Abend wurde spekuliert. Es war noch nicht ganz dunkel, als ich einen Mann sah – auch so einen Häftling – der ging direkt da hin. Da habe ich mir gedacht: ‚Das werde ich auch probieren.‘ Ich habe mich ihn angeschlossen und dann sind wir gegangen. Und auf einmal hörten wir von Weitem: “ Häftlinge wohin?!“ Ich dachte, dass alles aus wäre. Daher sagte ich zu dem anderen Häftling: ‚Jetzt sind wir verloren!‘ Der andere, es war ein Jugoslawe, beruhigte mich und ging auf den Militärposten zu. Wieder hat er gefragt: ‚Wohin!‘ Da sagte der Jugoslawe: ‚Medikamente für das Lager!‘
Es ist kaum zu glauben, aber wir durften tatsächlich passieren und es ist uns nichts geschehen. Dann sind wir nach Waakirchen gekommen. Kurz vor der Ortschaft haben wir auf dem Weg ein Stück Fleisch gefunden. Ich weiß nicht, vielleicht stammte es von einem Hund oder einer Katze oder so etwas. Der Jugoslawe hat ein Stück Fleisch herausgeschnitten und ich habe es versteckt. Dann sind wir zu den ersten Häusern von Waakirchen gekommen. Wir wussten nicht, sollten wir hineingehen? Da stand ein Haus – oben ist eine Schule gewesen und unten war ein Stall. Ein Mann, der unten im Stall stand, fragte: ‚Was wollt ihr da, was macht ihr?‘ Da hat der Jugoslawe wieder das gleiche gesagt und ihm erklärt, dass wir Medikamente für das Lager wollen. Gleich. darauf sind Frauen gekommen, haben geguckt und sind wieder weggegangen. Kurze Zeit später sind sie wiedergekommen und eine hat in ihrer Schürze gekochte Kartoffeln versteckt gehabt. Sie hat sie uns gegeben und wir haben sie heißhungrig verschlungen. Und dann hat uns der Mann erlaubt, im Futtertrog zu übernachten. Wir haben uns hineingelegt und das war die schönste Nacht – meine schönste Nacht war das. Wir sind doch die ganze Zeit gegangen, wir haben die ganze Zeit nicht schlafen können.
In der Frühe hat man gesagt, dass die Amerikaner kommen. Natürlich haben wir uns gefreut. Wir sind herausgegangen – die haben zu Essen gegeben. was sie gehabt haben, haben sie gegeben. Ich war der glücklichste Mensch.
Ich war frei!“
Original Tondokument – Ausschnitt aus dem Interview mit Slomo Pasternak am 3. Mai 1993.
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